"Prolog/Dionysos": Starker Auftakt der Antiken-Serie in Hamburg

Stand: 16.09.2023 09:10 Uhr

Die Antike ist immer noch lebendig - und ihre Geschichten sind hochtoxisch. Das zeigte am Freitag die Uraufführung von "Prolog/Dionysos" am Deutschen Schauspielhaus in Hamburg. Es war der Auftakt zu einer fünfteiligen Antiken-Serie.

Ein gehörnter Mann sitzt an einem Tisch, auf dem Weingläser und Flaschen stehen. © Monika Rittershaus
Beitrag anhören 5 Min

von Peter Helling

Eine Frau hat ihren Sohn getötet: zerrissen, zerfetzt. Im glitzernden Ballkleid steht sie da. Es war im Wahn. Und langsam realisiert sie, was sie getan hat, blutüberströmt. Sie lacht wie eine Wahnsinnige.

Lina Beckmann, zu ihren Füßen der blutige Kopf des Sohnes. Eimerweise Leichenteile. Willkommen in "Anthropolis", in der Welt der Antike, der Welt des Rausches, des Wahns, des Übermuts. Es ist der schmerzhafteste, erschütterndste Augenblick an diesem Abend. Darüber geht nichts. "Das waren so unfassbar große Bilder, trotzdem ist die Geschichte erzählt worden - ich bin völlig weggeknallt", erzählt ein Zuschauer später. Ein anderer Zuschauer resümiert nach dem Stück: "Es geht vor allem darum, wie schnell Menschen dem Wahnsinn verfallen können."

Weitere Informationen
Drei Menschen halten einen Mann über Kopf © Monika Rittershaus

"Anthropolis": Blockbuster-Serie am Hamburger Schauspielhaus

In fünf Stücken zeigen Roland Schimmelpfennig und Karin Beier den Aufstieg und Fall der Stadt Theben. Die Serie startete mit "Dionysos". mehr

"Prolog/Dionysos": Leg' dich nicht mit einem Gott an 

Der Fehler dieser armen Menschen: Sie haben einen Gott missachtet - Dionysos, den Gott des Weins, des Feierns, der Lust. Carlo Ljubek spielt ihn mit weißer Schminke, Frauenperücke und einem Lächeln unter dem Lippenstift, bei dem einem das Blut gefriert. Man lernt: Leg' dich nicht mit einem Gott an. 

Dabei hatte der Abend so leise, so sanft begonnen: Michael Wittenborn erzählt, in Alltagskleidung, eine uralte Geschichte. Den Raub der Königstochter Europa durch Zeus in Gestalt eines Stiers. Das Tolle: Es findet alles im eigenen Kopf statt. Eine Welt aus Worten. 

Der Bau der Welt, in der wir heute leben

Lina Beckmann mit einer Schaufel © Monika Rittershaus
Sie schaufeln sich eine Stadt: Lina Beckmann mit Kollegen im "Prolog".

Dann geht der Vorhang hoch - und wir sehen dem Gründungsmythos unserer Zivilisation zu. Im Nebel kehren ein paar halbnackte Männer und eine Frau Mulch zusammen. Von oben fällt Regen. Sie bauen sich eine Stadt. Sie bauen unsere Welt, in der wir heute leben. Es ist eine Welt, die von vornherein auf Gewalt basiert. Eine Welt des Handels, des Streites und auch: der Freude. 

Diesen ersten Teil des zweiteiligen Abends, den Prolog, den Roland Schimmelpfennig geschrieben hat, hat Karin Beier mit großem Atem inszeniert. Dabei gibt es immer wieder sehr witzige Brüche, ein Augenzwinkern ins Publikum, nach dem Motto: ist alles nicht so ernst gemeint. Ist es aber - das ist der Trick. Und er funktioniert, auch dank des großartigen Ensembles.

Lina Beckmann im Alice-Weidel-Look 

Den zweiten Teil leitet Lina Beckmann ein, mit der vielleicht umwerfendsten Weinverkostung der Theatergeschichte. Sie, mit Alice-Weidel-haftem blonden Dutt, Brille und Reitstiefeln, betrinkt sich heillos und setzt damit den Ton: Wieviel Rausch, wie viel Irrationalität, auch Verschwörungsmythen akzeptieren wir? Ist die Erde eine Scheibe? Gibt es den Klimawandel? 

Regisseurin Beier packt das ganz große Besteck aus. In einem grafisch klaren Raum von Johannes Schütz reitet Kristof Van Boven als Pentheus hoch zu Ross, wohlgemerkt: einem echten Schimmel. Er ist der Herrscher der Vernunft, spielt ihn glasklar. Er wird später von seiner Mutter ermordet.

Dionysos, wer auch immer das sein soll. Sie trinken krügeweise Wein, und dann machen sie's einfach, unter freiem Himmel, wie wilde Tiere. Pentheus in "Prolog/Dionysos"

Dieser zweite Teil hat einige Längen - da hilft auch die tolle 20-köpfige Taiko-Trommelgruppe nicht wirklich. Was aber diesem starken Auftakt der fünfteiligen Antiken-Serie gelingt: Er zeigt, dass die Antike immer noch lebendig ist. Diese Geschichten sind da, um uns, in uns. Und sie sind hochtoxisch. Fortsetzung folgt!

Weitere Informationen
Eine Frau liegt auf einer Bühne neben einem Skelett. © Thomas Aurin

"Antigone": Niederlage des Menschen, Triumph des Theaters

In Hamburg ist am Freitag das Finale der Antiken-Serie "Anthropolis" am Deutschen Schauspielhaus uraufgeführt worden. mehr

Szene mit Maximilian Scheidt und Paul Behren auf der Bühne © Thomas Aurin, 2023/Deutsches Schauspielhaus Hamburg Foto: Thomas Aurin

"Iokaste"-Premiere in Hamburg: Wucht durch Aktualität

"Iokaste" bildet eine Brücke von "Ödipus" zum Finale der Antiken-Saga. Das Stück tut sich schwer, allein zu stehen. mehr

Die Darsteller Devid Striesow und Julia Wieninger stehen auf einer dunklen Bühne, er hält sich mit einer Krücke aufrecht. © Monika Ritterhaus

"Ödipus" in Hamburg: Ein großartiger Abend - mit holprigem Start

Das Schauspielhaus musste am Anfang geräumt werden - Grund war ein Alarm. Doch dann wurde das Publikum fürs Warten belohnt. mehr

Eine Frau blutverschmiert auf einer Bühne. © Monika Rittershaus Foto: Monika Rittershaus

"Laios": Eine fantastische Lina Beckmann in Hamburger Antiken-Serie

Im zweiten Teil der Antiken-Serie spielt Beckmann alle Rollen allein auf der Bühne und erntet ohrenbetäubenden Beifall. mehr

"Prolog/Dionysos": Starker Auftakt der Antiken-Serie in Hamburg

Die Uraufführung im Deutschen Schauspielhaus hat gezeigt: Die Antike ist immer noch lebendig - und ihre Geschichten sind hochtoxisch.

Art:
Bühne
Datum:
Ort:
Deutsches Schauspielhaus
Kirchenallee 39
20099 Hamburg
Telefon:
040 248713
In meinen Kalender eintragen

Dieses Thema im Programm:

NDR Kultur | Der Morgen | 16.09.2023 | 07:40 Uhr

Schlagwörter zu diesem Artikel

Theater

Sonja Anders, Intendantin des Schauspiel Hannover © Staatstheater Hannover / Katrin Ribbe Foto: Katrin Ribbe

Sonja Anders: Was kann Theater in schwierigen Zeiten leisten?

Welche gesellschaftspolitischen Themen werden verhandelt? Mit welchen Formen wird auf der Bühne experimentiert? Ein Essay von Intendantin Sonja Anders. mehr

Katja Weise © NDR Foto: Christian Spielmann
6 Min

Zum Spielzeit-Start: Trends und Themen an norddeutschen Bühnen

Viele Theater im Norden verlassen für ihre Stücke den Theaterraum und suchen neues Publikum, erzählt NDR Kultur Theaterkritikerin Katja Weise im Interview. 6 Min

Eine Frau und ein Mann, die sich unterhalten, sitzen auf einem aufblasbaren Sessel. Im Hintergrund sitzt eine Frau in einem blauen Overall. © Bo Lahola

"Was war und was wird" in Hamburg: Ein Abend über die Zeit

Die Hamburger Kammerspiele sind mit einem lebensechten Dialogstück über das Vergehen der Zeit in die Saison gestartet. mehr

Der Arm einer Frau bedient einen Laptop, der auf einem Tisch in einem Garten steht, während die andere Hand einen Becher hält. © picture alliance / Westend61 | Svetlana Karner

Abonnieren Sie den NDR Kultur Newsletter

NDR Kultur informiert alle Kulturinteressierten mit einem E-Mail-Newsletter über herausragende Sendungen, Veranstaltungen und die Angebote der Kulturpartner. Melden Sie sich hier an! mehr

NDR Kultur App Bewerbung

Die NDR Kultur App - kostenlos im Store!

NDR Kultur können Sie jetzt immer bei sich haben - Livestream, exklusive Gewinnspiele und der direkte Draht ins Studio mit dem Messenger. mehr

Mann und Frau sitzen am Tisch und trinken Tee. © NDR Foto: Christian Spielmann

Tee mit Warum - Die Philosophie und wir

Bei einem Becher Tee philosophieren unsere Hosts über die großen Fragen. Denise M‘ Baye und Sebastian Friedrich diskutieren mit Philosophen und Menschen aus dem Alltag. mehr

Mehr Kultur

Der Filmemacher Andreas Dresen steht vor einer Plakatwand des Filmkunstfestes Mecklenburg-Vorpommern. © Filmkunstfest Mecklenburg-Vorpommern Foto: David Harms

Filmpreis "Fliegender Ochse" geht an "In Liebe, Eure Hilde"

Regisseur Andreas Dresen hat beim Filmkunstfest MV in Schwerin den Hauptpreis im Spielfilmwettbewerb verliehen bekommen. mehr