Szenen aus einer Performance von Carolina Bianchi. © Christophe Raynaud de Lage
Szenen aus einer Performance von Carolina Bianchi. © Christophe Raynaud de Lage
Szenen aus einer Performance von Carolina Bianchi. © Christophe Raynaud de Lage
AUDIO: Carolina Bianchi auf Kampnagel: Ein Theaterabend, der sprachlos macht (4 Min)

Carolina Bianchi auf Kampnagel: Ein Theaterabend, der sprachlos macht

Stand: 20.08.2023 07:38 Uhr

Carolina Bianchi gilt als eine der wichtigsten Performerinnen der Gegenwart. Ihr Stück "The Bride and the Goodnight Cinderella" wurde letztes Jahr beim Festival in Avignon uraufgeführt und weltweit diskutiert. Seit gestern ist es in der Hamburger Kulturfabrik Kampnagel zu sehen.

von Peter Helling

Wie findet man Worte für einen Theaterabend, der wortwörtlich "sprachlos" macht? Einige Zuschauerinnen winken gleich nach dem Stück ab - andere versuchen es tapfer: "Es war klar, dass es heftig wird", heißt es da. Oder: "Ich bin gerade echt noch ein bisschen sprachlos, es war ein total abgefahrenes Theaterstück, was echt versucht hat, einen in Gefühlswelten reinzuziehen, die man als Mann ja eigentlich sowieso nicht kennt."

Die brasilianische Performerin Carolina Bianchi, in Weiß gekleidet, nimmt an einem Tisch Platz. Darunter liegt ein Haufen Erde. Auf dem Tisch: ein Stapel Papierseiten, ein Glas, eine kleine Flasche Wodka. Sie begrüßt das Publikum. Und bald wird klar: Das hier wird anders. Sie spricht über Gewalt gegen Frauen. Über Vergewaltigungen, über Femizide - also Morde an Frauen, weil sie Frauen sind. Und dann: zerstößt Carolina Bianchi eine Schlaftablette, streut sie in ein Glas, nimmt den Strohhalm in den Mund und trinkt. In ihrer Heimat Brasilien heißen die Tabletten übersetzt "Gute Nacht, Aschenputtel". Sexualstraftäter benutzen sie, um Frauen zu vergewaltigen - und immer wieder werden diese Frauen auch ermordet. Dieser Abend ist eine Reise in die Nacht.

Die Bühne als "Friedhof ermordeter Frauen"

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Carolina Bianchi liest aus ihrem eigenen Stück vor, die Texte werden übertitelt - noch wirkt sie hellwach - und erzählt darin die Geschichte weiblicher Performerinnen. Frauen, die sich Extremsituationen aussetzen. Und von einer redet sie besonders: von Pippa Bacca. Die wollte 2008 in einem weißen Brautkleid mit einer Freundin aus Italien nach Jerusalem trampen, um für den Frieden zu demonstrieren. In der Türkei wird sie von einem Autofahrer vergewaltigt und ermordet. Fotos der jungen Frau werden hinter Carolina Bianchi eingeblendet. Sie nimmt ihren eigenen Körper, ihr Bewusstsein und wirft beides in einen bösen Traum, um Pippa Bacca zu begegnen.

Dann legt sie sich auf den Tisch, der inzwischen wie ein Altar aussieht - und schläft ein. Ihr Kollektiv, ihre Performancegruppe übernimmt. Junge Menschen kommen von der Seite, tragen die Schlafende nach hinten. Enthüllen ein Auto, legen ein Skelett, eine Puppe, einen Haufen Haare in Licht-Spots. Die Bühne wird zum Friedhof ermordeter Frauen. Die Gruppe beginnt, ekstatisch zu tanzen, übergießt sich mit Tequila und Orangensaft: eine Séance, ein Geistertanz.

Der schlafende Körper Carolina Bianchis, diese maximale Verletzlichkeit, beglaubigen diese theatrale Reise, sie ist da, ohne da zu sein. Die Texte, die Carolina Bianchi vorgelesen hat, werden weiter hinten auf eine Leinwand projiziert, als würde die Träumende im Traum weitersprechen. Auf der Bühne verdichtet sich die Tanzperformance zu einer Autofahrt, die in einem tödlichen Crash endet.

"Eine archaische Geisterbeschwörung"

Und dann die sicher radikalste Szene - Carolina Bianchi wird auf die Motorhaube des Autos gelegt, ihre Beine werden geöffnet, und eine Performerin taucht mit einer Kamera tief in die Vagina Carolina Bianchis hinein. Es ist ein Moment, ungeheuer verletzlich - weil er das Trauma einer Vergewaltigung wiederholt.

Schließlich wird Carolina Bianchi von ihren Performerinnen aufgeweckt, steht blinzelnd auf. Zerbrechlich ist gar kein Ausdruck. Die Gewalt von Männern gegen Frauen: Hier wird daraus eine archaische Geisterbeschwörung, ein physisches, erschütterndes Erlebnis - und so viel Superlativ muss sein: sicher eine der radikalsten Performances, die je auf Kampnagel zu sehen waren.

Carolina Bianchi auf Kampnagel: Ein Theaterabend, der sprachlos macht

Carolina Bianchis Stück zeigt die Gewalt von Männern an Frauen - und ist eine der radikalsten Performances, die je auf Kampnagel zu sehen waren.

Art:
Bühne
Datum:
Ende:
Ort:
Kampnagel
Jarrestraße 20
22303 Hamburg
Kartenverkauf:
https://kampnagel.de/produktionen/sf-23-carolina-bianchi-the-bride-and-the-goodnight-cinderella
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Dieses Thema im Programm:

NDR Kultur | Der Morgen | 19.08.2023 | 08:40 Uhr

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