Cover von John Irving "Der letzte Sessellift". © Diogenes

"Der letzte Sessellift": John Irvings Plädoyer für mehr Akzeptanz

Stand: 28.04.2023 06:00 Uhr

Keiner erzählt so gekonnt, so pointiert und komisch wie John Irving. Nun ist "Der letzte Sessellift" auf Deutsch erschienen - Irvings bisher längster Roman mit 1.088 Seiten!

von Maren Ahring

"Ich versuche, nicht an das Verschwinden zu denken." Mit diesem Satz endet John Irvings neuer Streich. Der 81-Jährige ist bekannt dafür, dass er seine Romane vom Ende her denkt; er beginnt erst etwas zu schreiben, wenn er weiß, wie die Geschichte ausgehen soll.

"Der letzte Sessellift" enthält alle Zutaten eines "echten" Irvings

Dieser letzte Satz klingt nun überraschend wehmütig. Ist der Roman womöglich ein Vermächtnis? Man könnte die 1.088 Seiten tatsächlich so lesen, tauchen doch noch einmal alle Zutaten eines "echten" Irvings auf: eine starke, alleinerziehende Mutter, eine Handvoll skurrile Verwandte, mehrere homosexuelle Beziehungen, Ringen, Charles Dickens und Schriftstellerei - garniert mit einer gehörigen Prise Humor.

"Ich wollte am Anfang eine Geschichte einer Familie ausbreiten, die vielen meiner Leserinnen und Lesern vertraut vorkommen wird. Und diese Geschichte sollte einige Dinge aus meinem eigenen Leben berühren, die wiederum mir am vertrautesten sind. Aber je weiter der Roman im Lauf der Jahre voranschreitet, umso weniger autobiografisch wird er. Und umso weniger vertraut wird er für meine Leser", erzählt Irving im ARD-Interview mit Dennis Scheck. Wer die Wiederholungen im Werk Irvings nicht mag, sollte also besser die Finger von diesem Roman lassen. Alle anderen tauchen genüsslich ein in die Lektüre von "Der letzte Sessellift" - wie in eine warme, behagliche Badewanne.

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John Irving punktet mit interessanten Figuren

Die Hauptfigur, der Ich-Erzähler dieser Geschichte, heißt Adam. Seine Mutter Rachel, genannt Little Ray, bekam ihn mit 18 und verriet nie, wer sein Vater ist. Adam wächst im Wesentlichen bei seinen Großeltern auf. Denn seine Mutter arbeitet weit entfernt als Skilehrerin - sehr zum Leidwesen ihres Sohnes:

Während der Grundschule, in der Mittelschule und bis kurz vor dem Abschluss schaffte ich es, Skianfänger zu bleiben. Meist gab es in den entsprechenden Kursen meiner Mutter nur kleine Kinder, ich aber rasierte mich bereits und fuhr schon Auto. Leseprobe

Überhaupt spielt Skifahren eine entscheidende Rolle in diesem Roman. Das ist manchmal etwas ermüdend. Aber letztlich sind es ja auch die Figuren, mit denen John Irving in seinen Romanen punktet. In "Der letzte Sessellift" sind es die lesbische Cousine Nora und ihre stumme Freundin Em, die in New York zum gefeierten Comedy-Duo werden - und vor allem die Figur des Englischlehrers Eliott Barlow, der schließlich Adams Mutter heiratet. Einer der Schlüsselmomente des Buchs: Die Hochzeit der beiden und der bedeutsame Satz einer Freundin:

Es gibt mehr als nur eine Art zu lieben, Adam. Leseprobe

 

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Ein Plädoyer für mehr Akzeptanz

Natürlich treten noch Wendungen ein, die hier nicht verraten werden dürfen. Klar ist aber: "Der letzte Sessellift" ist auch ein großes und großartiges Plädoyer für mehr Akzeptanz gegenüber sexuellen Minderheiten. John Irving erklärt, warum ihm das Thema so am Herzen liegt: "Ich hatte einen jüngeren Bruder und eine Schwester, Zwillinge, die schwul und lesbisch waren. Und ich habe noch die Stimme meiner Mutter im Ohr, die sagte: Wenn Männer Frauen so behandeln, als wären wir eine sexuelle Minderheit, wie viel schändlicher behandeln sie dann tatsächliche Angehöriger sexueller Minderheiten?"

"Der letzte Sessellift" vereint mehr als einen Roman in sich - so viele Geschichten stecken darin. Keiner erzählt so gekonnt, so pointiert und komisch wie John Irving - möge dieses Buch nicht sein letzter Streich gewesen sein.

Der letzte Sessellift

von John Irving
Seitenzahl:
1088 Seiten
Genre:
Roman
Zusatzinfo:
Aus dem Amerikanischen von Anna-Nina Kroll und Peter Torberg
Verlag:
Diogenes
Bestellnummer:
978-3-257-07222-8
Preis:
36 €

Dieses Thema im Programm:

NDR Kultur | Neue Bücher | 28.04.2023 | 12:40 Uhr

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Romane

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