NDR Buch des Monats März: "Nebenan"
Für ihren Debütroman "Die Glücklichen" bekam die Hamburger Autorin Kristine Bilkau viel Lob. Jetzt folgt der dritte Roman: "Nebenan" - unser NDR Buch des Monats.
"Ich bin viel in diese Städte gefahren, Rendsburg, Elmshorn, Itzehoe," sagt Kristine Bilkau, "und hab eigentlich erstmal nur hingesehen und für mich dokumentiert." Und zwar: Wie sich diese Städte verändert haben. Welche Orte verloren gegangen sind - Geschäfte, Kinos, Cafés. Im Roman hat die Kleinstadt am Nord-Ostsee-Kanal, in der die Geschichte spielt, keinen Namen.
Unaufhaltsam vertrocknet das Zentrum. Da helfen auch die Putztage für Schaufenster nichts, wie sie neulich veranstaltet worden sind. Durch die blitzblanken Fenster sieht man die schäbigen Teppiche und leeren Regale nur noch deutlicher. Und dann das Kaufhaus, ein Jahrzehnt Leerstand. Leseprobe
Kristine Bilkau ist eine feine Beobachterin, die poetisch-präzise beschreibt. Und dabei immer und vor allem von Menschen erzählt, von dem, was eine Situation aus ihnen macht. Wo sie ihre Räume suchen und vielleicht auch finden: "Es geht um das soziale Miteinander und die Orte, an denen es passiert. Oder wie Orte unser soziales Miteinander prägen können und umgekehrt, unser Miteinander sich in die Orte einschreibt", sagt die Autorin.
Zwei gegensätzliche Frauen im Mittelpunkt von "Nebenan"
Im Mittelpunkt stehen Astrid und Julia - zwei Frauen, die gegensätzlicher kaum sein könnten. Astrid ist Anfang 60, Ärztin, Mutter von drei erwachsenen Kindern, Großmutter und, so scheint es, nicht leicht zu erschüttern. Sie ist in diesem Ort groß geworden und verwurzelt. Julia, Ende 30, Keramikerin, kommt aus Hamburg und ist gerade erst mit ihrem Mann aufs Land gezogen, in ein Haus nicht weit vom Kanal.
Die Landschaft ist in kaltblaues Licht getaucht. Ein riesiger Frachter schiebt sich durch das Wasser, zwischen Schiffswand und Kanal liegen nur wenige Meter. Auf der Brücke steht jemand, er winkt, sie blickt sich unsicher um, aber es scheint, als wäre sie gemeint, und sie winkt zurück. Leseprobe
Julia hat einen Laden im verwaisten Zentrum eröffnet, doch die meisten kaufen ihre Keramik online. Was ihr ganz recht ist. Sie ist scheu und sehr mit ihrem bisher unerfüllten Kinderwunsch beschäftigt. Stunden verbringt sie auf Instagram-Accounts, die ein glückliches Familienleben suggerieren, oder liest über dramatische Geburten. "Das Paradoxe ist", erzählt Bilkau, "dass sie einerseits eine unglaubliche Sehnsucht nach Verbundenheit hat, und gleichzeitig aber alles, was sie tut, in einem Rückzug ins Private mündet."
Scheinbar kleine Verschiebungen lösen Unwohlsein aus
Dabei beschäftigen sie vor allem ihre Nachbarn durchaus. Seit Wochen steht das Haus nebenan leer, spurlos ist die Familie mit den drei Kindern verschwunden. Auch Astrid steht vor einem beunruhigenden Rätsel: Neuerdings schickt ihr jemand anonyme Drohbriefe in die Praxis. Sie beginnt, sich zu fürchten. Es sind viele Themen, die Kristine Bilkau anschneidet. Oft geht es nur um scheinbar kleine Verschiebungen, die jedoch Unwohlsein und Ängste auslösen, hinter denen etwas Größeres steht. In welchen familiären, in welchen gesellschaftlichen Räumen fühlen wir uns (noch) sicher? Wie finden wir zueinander?
Kristine Bilkau macht Gedanken-Räume auf - glasklar scheint ihre Sprache, ganz nah ist sie bei ihren Figuren und am Puls der Gesellschaft. Und doch bleibt ein Geheimnis, etwas Unerklärliches.
Das Sonnenlicht durchströmt das Wasser, lässt alles hell und flirrend wirken, grünlich, gelb und blau schimmernd. Leseprobe
Bei aller Klarheit hält sie ihre Geschichten in der Schwebe. Und das ist eine große Kunst.
Nebenan
- Seitenzahl:
- 288 Seiten
- Genre:
- Roman
- Zusatzinfo:
- Das Hörbuch mit der ungekürzten Lesung von Heike Warmuth ist im hörverlag erschienen (Hörbuchdownload 17,95 €).
- Verlag:
- Luchterhand
- Veröffentlichungsdatum:
- 8. März 2022
- Bestellnummer:
- 978-3-630-87519-4
- Preis:
- 22,00 €
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