NDR Buch des Monats Februar: "Auf der Straße heißen wir anders"
Bremen-Nord: kein Idyll, viel Beton, die Klamottenläden sind pleite und zwischen den Gehwegplatten sprießt das Gras. Hier wächst Karla auf, eigentlich Karlotta. Das ist das Leitmotiv des Romans: Namen wandeln sich. Je nach Ort, oft unter Zwang.
Ein migrantisches Milieu am Rand, eine Jugend zwischen bleierner Langeweile und Rassismus in der Schule, zwischen Wodka-Lemon, dem Joint auf dem Spielplatz und der Linie 79 nach Vegesack.
Der Bus rollte an, die anderen grölten, Karlotta blickte aus dem Fenster. Auf die schmucklosen Fassaden, die beim Beschleunigen zu einer langen, leblosen Häuserschnur verschmolzen. Sie blinzelte. Ob sie eines Tages noch anfangen würde, diese aufregende Jugend? Leseprobe
Bremen-Nord als Fixpunkt
Laura Cwiertnia berichtet auch aus eigener Erfahrung. Sie zeigt Bremen-Nord als lebendigen Fixpunkt von Beziehungen, von Bewegungen und Geschichten aus aller Welt. Istanbul, Jerusalem, Yerewan sind nicht weit. "Ich glaube, Bremen-Vegesack steht für viele solcher Orte, die es in deutschen Städten gibt", so die Autorin. "Es sind Orte, die irgendwie zur Stadt gehören, aber doch am Rande sind."
Karlas Vater Avi ist Taxifahrer, ein Armenier aus der Türkei. Seine Mutter ist vor Jahrzehnten allein nach Deutschland gegangen, um Geld zu verdienen. Es ist eine von Millionen Migrationsgeschichten, die jetzt endlich erzählt werden: Karla aber weiß kaum etwas von ihren Wurzeln, sie hängt zwischen den Welten. Das Buch beginnt mit der Beerdigung ihrer Großmutter Maryam, von der es heißt, sie sei zu schwer für das Leben.
Eine Reise nach Armenien
Maryam hat ein Erbe hinterlassen, einen Armreif aus echtem Gold. An ihm hängt ein schmutziger Zettel mit dem Namen von Lilit, einer Frau, von der noch keiner in der Familie gehört hat. Karla will Lilit suchen, das Erbe übergeben.
Die Sonne steht schon tief, doch die Krokusse auf der Wiese vor dem Haus leuchten noch immer. Mein Herz schlägt schneller, als ich mich zu meinem Vater drehe. "Fährst du mit mir nach Armenien, Papa?" Leseprobe
Die gemeinsame Reise beginnt, und damit verästeln sich die Geschichten. Yerewan ist eine Stadt, die Karla auf Anhieb in den Bann zieht. Ihr Vater ist erst zögerlich, dann enthusiastisch, denn er kennt diese fremde Heimat nicht, weil er in Istanbul groß geworden ist. Mit jedem Kapitel wird eine neue Facette ihrer Identitäten sichtbar.
Ein Roman mit feinem, hellsichtigem Ton
Was an diesem gelungenen Roman so überzeugt, ist der feine, hellsichtige Ton, die genaue Beobachtung von Situationen, die mühelosen Übergänge zwischen den Zeitebenen. Man versteht die Charaktere, sieht sie vor sich, mit ihrer beredten Körpersprache und in ihrem tiefen Schweigen.
Da ist er, der Ararat. Er füllt den gesamten Himmel vor uns aus. Ein riesiger Kegel, nur oben an den Rändern lässt der Berg Platz für ein wenig Blau. Mein Vater sagt nichts, er sieht schweigend zum Gipfel. Und auch mir bleiben für einen Moment die Worte weg. Leseprobe
In die dunkle Vergangenheit und wieder zurück
Und dann nimmt einen das Buch unmerklich mit, fast federleicht, hinein in die Schwärze, in die Angst. Karla trifft auf ihrer Suche nach Lilit auf die Spuren des Völkermordes an den Armeniern. Auf Vornamen, die auf der Straße anders klingen mussten, um ihre Trägerinnen und Träger zu schützen. Ali statt Avi, Meryem statt Maryam.
Laura Cwiertnias Buch folgt Karlas Familie in die Vergangenheit und wieder zurück. Karla schließt zwar einen Kreis, aber eine zu Ende erzählte Geschichte ist immer auch ein Anfang, denn das familiäre Trauma endet damit nicht. Es ist ein fabelhafter, Augen öffnender Roman: Bremen-Nord ist gleich nebenan.
Auf der Straße heißen wir anders
- Seitenzahl:
- 240 Seiten
- Genre:
- Roman
- Bestellnummer:
- 978-3-608-98198-8
- Preis:
- 22,00 €
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Romane
