Stand: 18.09.2020 12:26 Uhr

Die Welt der irischen Traveller-Kinder

von Annkathrin Bornholdt

In der globalisierten Welt ist ein Leben abseits aller modernen Einflüsse kaum noch vorstellbar. Aber es gibt sie noch: Kleine abgeschieden lebende Gruppen, die nach ihren eigenen, oft über Generationen weitergegebenen Regeln leben und sich stark über ihren Zusammenhalt definieren.

So eine Gruppe sind die irischen "Traveller", ein Nomadenvolk, das sich mittlerweile überwiegend an festen Orten aufhält und kaum noch herumzieht. Doch sind dies Orte fern der irischen Gesellschaft, Randgebiete. Die Kinder, die unter Travellern aufwachsen, erleben eine ganz andere Kindheit, als wir sie in Stadt und Land kennen. Der US-amerikanischen Fotografin Jamie Johnson ist es für ihren Bildband "Growing Up Travelling" gelungen, ganz nah an diese Kinder heranzukommen.

Wir schauen durch die Tür in einen Wohnwagen. Darin sitzt ein nacktes Kleinkind, vielleicht eineinhalb Jahre alt, in einem Plastikzuber. Die Haut des Kindes glänzt feucht, die kurzen Haare sind nass. Mit seinen wunderschönen großen Augen blickt es die Besucherin an. Offen und fragend zugleich. "Wer bist du und was willst du?", möchte es vielleicht wissen und ist dabei noch völlig ahnungslos, was sein Leben von dem vieler anderer Kinder unterscheidet.

Grenzenlose Freiheit oder misslungene Integration?

Die irischen Traveller sind eine ethnische Minderheit, die lange Zeit keinen festen Wohnsitz hatte, sondern in Wohnwagen und Anhängern durchs Land zog. Mittlerweile sind die Traveller-Familien größtenteils sesshaft. Sie wohnen an Stadträndern, sowohl in legalen als auch illegalen Unterkünften. Traveller waren und sind als Saisonarbeiter und Pferdehändler tätig oder verdienen ihr Geld mit Boxen.

Jamie Johnson hat es geschafft, Vertrauen zu einigen von ihnen aufzubauen und hat seit 2014 regelmäßig Schwarzweiß-Fotografien vor allem von Kindern und Müttern gemacht.

Ein Mädchen im Grundschulalter mit vom Wind zerzausten Haaren und einem Strickpulli über der Schulter lächelt vorsichtig in die Kamera. Es schmiegt sich mit den Händen und dem Oberkörper an den Kopf eines Ponys. Die zeitlose Szene verströmt Ruhe, Geborgensein, Zufriedenheit.

Ein Leben mit eigenen Ritualen und Traditionen

Eine glückliche "Astrid-Lindgren-Kindheit": Kinder, die noch selbstvergessen spielen, toben und sich frei bewegen dürfen. Dazu die immer wieder eingestreuten kurzen Zitate.

Die Traveller führen ein Leben mit eigenen Ritualen und Traditionen. So schildert es die amerikanische Professorin Mary Burke im Vorwort zum Buch. Dazu gehört die Abgrenzung nach außen, eine strenge Geschlechteraufteilung, kurzer Schulbesuch und frühe Heirat. Die Folgen dieses Lebens sind: schlechte Gesundheit, kaum Bildungschancen, hohe Sterberaten und eine hohe Arbeitslosigkeit. Es herrscht eine fast unauflösliche Kluft zur übrigen irischen Gesellschaft, die den Travellern oft abwertend und ausgrenzend gegenübersteht.

Jamie Johnson geht behutsam auf die Menschen zu

Wie die Orgelpfeifen stehen vier Mädchen im Alter von vielleicht 6 bis 14 Jahren nebeneinander. Sie sind geschminkt, tragen kurze Röcke und Kleider, Kniestrümpfe und feine Schuhe. Die langen Haare sind glattgebürstet. Voller Stolz posieren sie vor der Kamera.

Ein Junge mit Boxhandschuhen wirft der Fotografin einen grimmigen Blick zu. Ein anderer schaut mit ernsten, unterlaufenen Augen fast flehend in die Kamera. Ein dritter mit Goldkettchen um den Hals, Ring im Ohr und einem Feuerzeug in der Hand, blickt misstrauisch drein und sieht so aus, als hätte er sein Leben schon gelebt.

Fotos und Zitate ziehen in einen Strudel aus intensiven Gefühlen und Ambivalenzen hinein. Die Unbekümmertheit der Kinder beim Spielen, der Stolz und Zusammenhalt dieser Menschen, all das ist beeindruckend. Grenzenlose Freiheit, eine schützenswerte Kultur oder misslungene Integration? Dieser ungeschönte Einblick in die Welt der Traveller-Kinder macht Jamie Johnsons Fotografien so wertvoll.

Growing Up Travelling

von Jamie Johnson
Seitenzahl:
112 Seiten
Genre:
Bildband
Zusatzinfo:
Leineneinband, 24 x 27,4 cm, 85 Duplexabbildungen, Texte von Mary M. Burke, Englisch
Verlag:
Kehrer
Bestellnummer:
978-3-86828-968-8
Preis:
39,90 €

Dieses Thema im Programm:

NDR Kultur | 20.09.2020 | 16:20 Uhr

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Fotografie

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