von Lena Bodewein

Eines Tages, im Winter, schrieb Eichhorn einen Brief an die Ameise:

Liebe Ameise,
Ameise, Ameise, Ameise, Ameise, Ameise, Ameise, Ameise, Ameise, Ameise, liebe Ameise, Ameise, Ameise, Ameise, Ameise, liebe Ameise, liebe Ameise, Ameise.
Eichhorn.

Das war ein seltsamer Brief und Eichhorn wusste nicht, warum er ihn geschrieben hatte. Aber er zog dem Brief eine Jacke an und setzte ihm eine Mütze auf, denn es war kalt. Leseprobe

Eine poetische Welt mit leichtem Witz

Ganz offensichtlich haben Briefe in diesem Buch einen so hohen Stellenwert, dass sie ein eigenes Leben haben. In der waldigen Welt von Eichhorn und Ameise, Bär und Blattlaus, Schnecke und Elefant erreichen Briefe ganz von selbst ihren Empfänger. Sie stellen sich manchmal ein, ohne dass irgendjemand sie geschrieben hätte, und: Sie haben auch Bedürfnisse!

"Etwas Süßes?", fragte die Ameise. "Das ist gut!", sagte der Brief und raschelte vor Vergnügen. Die Ameise nahm ihren Stift und schrieb etwas Süßes oben auf den Brief und nach einigem Nachdenken auch etwas Warmes unten auf den Brief. Sie selbst nahm sich ein bisschen Honig. Der Brief knisterte vor Vergnügen, und seine Ecken bogen sich um. Leseprobe

Der niederländische Autor Toon Tellegen hat eine ganz poetische Welt erschaffen, in der nichts wirklich absurd sein kann, weil alles ganz natürlich wirkt. Ein Eichhorn schreibt einen Brief an seinen Tisch, und der Tisch schreibt zurück. Doch diese Belebtheit der Dinge wirkt nie kitschig wie ein singender Kerzenleuchter in Disney-Manier, sondern stets ganz selbstverständlich. Alles fein formuliert, liebevoll und mit leichtem Witz.

Ein altmodisches Buch zum Innehalten

Die inzwischen verstorbene Übersetzerin und Autorin Mirjam Pressler hat das Buch ganz famos aus dem Niederländischen übersetzt. Es ist ein altmodisches Buch, eines zum Innehalten, in dem nicht per Smartphone kommuniziert wird, sondern in dem Briefe die wichtigen Botschaften bringen, zum Beispiel, als die Schildkröte es eines Tages eilig hat und daran verzweifelt. Die Schnecke schickt ihr per Brief einen guten Rat:

Eile ist etwas Grausames. Kämpfen Sie gegen sie an, schlagen Sie sie, falten Sie sie zusammen, bis sie nur noch ein unbedeutendes Knäuel ist. Leseprobe

Denn wenn erst die Schildkröte und die Schnecke ihre Ruhe verlieren würden, was dann? Obwohl die verschiedenen Briefgeschichten in der Natur spielen und die Tiere menschliche Eigenschaften haben, ist es weder Märchen noch pure Idylle. Eine depressive Blattlaus traut sich nach langem Zögern und Schämen, einen Wunsch zu äußern:

Lieber Eichhorn,
ich möchte gern den Duft von Honig. Aber nur den Duft.
Blattlaus Leseprobe

Der Bär, zwischen verfressen und verzweifelt:

Lieber Eichhorn,
an deinem Geburtstag gibt es bestimmt eine große Torte. Darf ich diese Torte einmal ganz allein aufessen? Leseprobe

So schreibt er in einem Brief. Nur um den nächsten zu beenden:

Tiere,
wisst ihr, was 'zugrunde gehen' ist? Das ist es, was ich dann tue. Helft mir.
Bär Leseprobe

Und alle Tiere helfen.

Herrliche Illustrationen von Axel Scheffler

Es ist eine ideale Welt, aber nicht idealisiert, so wie die herrlichen Illustrationen von Axel Scheffler. Eine Welt, in der man auch gern mal leben würde - oder zumindest einen Brief von dort bekommen, auf den man dann gut aufpasst.

Eichhorn las, und als er den Brief ausgelesen hatte, fragte er ihn, ob er ihn unter sein Kopfkissen legen dürfe. Das ist gut! Sagte der Brief. Draußen stürmte es, Eichhorns Haus knarrte und die Schneeflocken fielen immer dichter. Die Welt wurde weißer und weißer. Aber Eichhorn und der Brief wussten das nicht. Sie schliefen und träumten von Worten und von süßer Tinte. Leseprobe

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