Stand: 16.09.2019 09:39 Uhr

Humboldts amerikanische Reisetagebücher

von Guido Pauling

Alexander von Humboldt war ganz gewiss kein Stubengelehrter. Ihn zog es in die Welt, er erforschte die Natur vor Ort. Am berühmtesten ist wohl seine amerikanische Forschungsreise von 1799-1804, bei der er Süd-, Mittel- und Nordamerika bereiste und unablässig Tagebuch schrieb.

Insgesamt füllte Alexander von Humboldt 4.500 Manuskriptseiten; neun Bände mit wissenschaftlichen Beschreibungen und Notizen zu Astronomie, Botanik und Zoologie, zu Gesteinsformationen, Geländeprofilen, Flussverläufen, zu Architektur, Handwerk und Kultur der vor Ort angetroffenen Menschen. Allein die Zeichnungen dieser handgeschriebenen Reisetagebücher füllen einen schweren, prächtigen Bildband aus dem Prestel Verlag.

Die kleine Schwarz-Weiß-Zeichnung in der Mitte eines vollgeschriebenen und vollgekritzelten Manuskripts wirkt zunächst unscheinbar. Gerundete Linien sollen wohl Felsgestein darstellen, teilweise schraffiert, angegraut. Zwei Fußabdrücke auf einer Art Weg deuten eine Schrittrichtung an. Vor ihnen wird es tiefschwarz - mit dicker Tinte hat der Zeichner ein dunkles Loch abgebildet. Die Kleinbuchstaben a-b, c und d auf dem schraffierten Fels, daneben e und f auf dem gepunkteten Weg geben der Zeichnung etwas Technisches. Offenbar sollte hier etwas ganz exakt bezeichnet und dem Leser bildlich erklärt werden.

Alexander von Humboldt: Wissenschaftler mit Sinn für Details

Genau so ist es: Alexander von Humboldt beschreibt in seinem "Amerikanischen Tagebuch" eine lebensgefährliche Situation, als er im Mai 1802 mit einem Indio als einzigem Begleiter den Krater des Vulkans Pichincha bestieg: "Der Nebel war stark, aber zur Linken sah ich wahrhaftig eine tiefe Spalte neben einem großen Schneehaufen, über den hinaus ich nichts als eine ungeheure Weite erblickte. Ein Schneefleck von kaum drei Fuß Breite verband zwei Felsbrocken. Wir gingen über diesen Schnee in der Richtung ab. Er trug uns vollkommen, als ich mit Schaudern sah, dass wir auf einer Schneebrücke über den Krater selbst gingen."

Ausgerechnet an dieser spannenden Textstelle gewinnt unvermittelt der detailversessene Wissenschaftler die Oberhand über den Erzähler, denn Humboldt fährt fort: "Ich bemerkte, dass 'd' ein Stein war, der von den Felsen 'bc' in der Luft gehalten wurde, und ich bemerkte ein blaues Licht zwischen dem Schnee und diesem Stein 'd'. Es scheint brennender Schwefel zu sein. Wir vergewisserten uns, dass wir über einer Spalte zwischen den beiden Felsen 'b' und 'c' gegangen waren und dass eine Decke von gefrorenem Schnee, aber von 8 Zoll Dicke, uns gehalten hatte."

Beinahe wären Humboldt und sein Begleiter 400 Meter tief in einen aktiven Vulkankrater und damit in den Tod gestürzt! Doch der preußische Naturforscher vermerkt in seinen Aufzeichnungen, welches 20 Zentimeter dicke Schneebrett e-f zwischen den Felsen b und c sie beide gehalten hatte.

Skizzen statt Handy-Fotos

Kleine Skizzen mitten im Text, eine bildliche Stütze für die Vorstellungskraft - das sind die Zeichnungen Alexander von Humboldts in seinen Reisetagebüchern. Ein heutiger Reisender macht vielleicht Schnappschüsse mit dem Smartphone, hält eine exotische Pflanze, einen ungewöhnlichen Fisch fest, macht ein Foto von den seltsamen Lichtringen um den Mond. Humboldt beschreibt - und zeichnet.

Ein Kreis mit Bewegungspfeil nach rechts und zwei sich überschneidende Kreise - fertig ist die Skizze zu einer Himmelsbeobachtung: "Der Mond hatte bei blauem Himmel farbige Ringe. Ziehen die Wolken schnell, so bringt die Dauer des Lichteindrucks im Auge eine sehr artige optische Täuschung hervor. Der farbige Circel ist exzentrisch gegen die Seite hin, wohin die Wolken ziehen, ja bisweilen sieht man 2 Ringe, die sich ablösen."

Gut 4.500 Manuskript-Seiten hat Humboldt über diese fünfjährige Reise verfasst. Darin enthalten rund 450 Skizzen und Zeichnungen, und nur diese sind in dem kiloschweren, 736 Seiten starken Prachtband abgebildet, den man nun sanft auf eine große Tischplatte vor sich legen und langsam durchblättern kann. Wenn man denn genauestens nachvollziehen möchte, was dieser rastlose, hellwache, forschende Geist unablässig notierte, skizzierte und zeichnete.

"Bilder-Welten": Mit großer Sorgfalt editierter Bildband

Sämtliche Blätter mit Humboldts rund 450 Zeichnungen sind originalgetreu abgebildet und von den Herausgebern mit detaillierten Erklärungen versehen. Man sieht die Farbe des Papiers und der Tinte, erkennt Risse, Knicke und Tintenkleckse, ja sogar die Wasserflecken des Orinoco. Bei einem Schiffbruch auf dem Fluss waren Humboldts Reisetagebücher ins Wasser gefallen und mussten tropfnass zum Trocknen aufgehängt werden!

Humboldts für Laien kaum lesbarer Handschriftentext ist in den entscheidenden Passagen abgedruckt und, wo nötig, aus dem Französischen übersetzt, so dass er sich gut nachlesen lässt. Kurz: Die editorische Sorgfalt der Herausgeber ist bewundernswert, der ganze edle Band ein wissenschaftliches Kunstwerk - für eine vermutlich sehr kleine Zahl von Genießern. Es braucht jedenfalls besonderen Forschergeist, an die 150 Euro auszugeben, um dann Dreiecke, Winkel, Küstenlinien oder Gesteinsschichten in Humboldts Handschrift zu betrachten.

Alexander von Humboldt: Bilder-Welten

von Ottmar Ette und Julia Maier (Hg.)
Seitenzahl:
736 Seiten
Genre:
Bildband
Zusatzinfo:
Hardcover, 24,0 x 34,0 cm, 600 farbige Abbildungen Prachtband im Schmuckschuber, mit Lesebändchen
Verlag:
Prestel
Bestellnummer:
978-3-7913-8312-5
Preis:
148,00 €

Dieses Thema im Programm:

NDR Kultur | Neue Bücher | 15.09.2019 | 17:40 Uhr

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