Stimmen des russischen Widerstands: Letzte Worte vor Gericht
Sie appelieren für Fairness und Gerechtigkeit, sie bennen den Schrecken in der Ukraine und nennen ihn das was er ist: einen brutalen Krieg. Auch vor russischen Gerichten haben Angeklagte das Recht auf ein "Letztes Wort". Diese Reden gehen oft unter die Haut und wurden jetzt in einem Buchprojekt dokumentiert.
Obwohl in den Medien oft von "Putins Krieg" gesprochen wird und der Widerstand in der russischen Gesellschaft selten sichtbar ist, gibt es Gegner des Blutvergießens in der Ukraine. Diese Regimekritiker äußern ihren Widerspruch gegen das Regime, mal still und subtil, mal laut und deutlich. Tausende von ihnen landen vor russischen Gerichten und werden in Schauprozessen verurteilt. Auch die russische Strafprozessordnung gewährt den Angeklagten das Recht auf ein letztes Wort, ohne Zwischenfragen und ohne Zensur.
"Mein liebster Mensch, meine Mutter, bat um einen Freispruch. Aber ich bitte nicht um einen Freispruch. Meine Seele spricht mich frei, und mein Gewissen ist es, das mich richtet. Abrechnen werden wir im Jenseits. Sechs oder acht Jahre – das spielt keine Rolle, dort gibt es keine Zeit. Der 24. Februar ist für mich ein wichtigeres Datum geworden als mein Geburtstag. Ich werde zu einer Haftstrafe verurteilt, und ich weiß, wieso: Ich bin schuld an meiner Gleichgültigkeit. Wenn ich schon damals am 24. Februar gewusst hätte, was mit mir und den Menschen, die mir am nächsten sind, passieren würde, hätte ich zu meinen Eltern gesagt: "Heute sind wir alle zusammen, niemand kann uns trennen, aber in sechs Monaten werden wir zusammen Dmitri beerdigen." Jegor Balasekin, 17
Jegor Balasejkin ist 17, war immer ein guter Schüler, sportlich, beliebt, folgsam gegenüber den Lehrern. Wenig mehr als ein Jahr nach Beginn der russischen Vollinvasion der Ukraine, am 28. Februar 2023, wirft er einen Molotowcocktail gegen die Tür des Einberufungsamtes von St. Petersburg. Der Grund: Jegors Onkel Dmitrij fiel in der Ukraine. Obwohl weder jemand verletzt - und auch nichts in Brand gesetzt wurde, wird Jegor verurteilt: Sechs Jahre in einer Umerziehungsanstalt für Jugendliche.
Publikum in russischen Gerichtssälen bringt Sicherheit
"Es ist ein merkwürdiges Gefühl, diesen Prozessen beizuwohnen, es ist beklemmend und gleichzeitig lächerlich." Elena Filina
Elena Filina frühere Abgeordnete des Moskauer Regionalparlaments für die liberale "Apfelpartei". Nachdem sie sich auf Facebook kritisch zum Krieg geäußert hatte, wurde sie festgenommen und floh nach kurzer Untersuchungshaft im Mai 2023 nach Deutschland. Heute lebt sie in Duisburg. Sie kämpft dafür "Die Stimmen des russischen Widerstands" im Westen hörbar zu machen:
"Für die Angeklagten kann es aber eine ermutigende Unterstützung sein, wenn Menschen beobachten und erkennen, dass hier die Wahrheit verdreht wird, dass der Prozess eine Lachnummer ist. Hinter verschlossenen Türen, ohne Publikum kann vor russischen Gerichten gefoltert werden. Es kann sehr brutal werden, Menschen im Saal sind deshalb eine wichtige Unterstützung, man ist nicht allein vor diesem Schaugericht." Elina Filina
Ganz normale Bürger und berühmte Dissidenten
Rentner, die auf der Straße ein Schild mit der Aufschrift "Frieden" hochhalten, ein ehemaliger Bahnangestellter, der über einen Garagen-Piratensender die Wahrheit über den Krieg verbreiten wollte, oder prominente Stimmen wie die der investigativen Journalistin Maria Nikolajewna Ponomarenko. Sie stand in Barnaul vor Gericht, etwas südlich von Nowosibirsk. Der Grund war ihr Bericht über die Zerstörung des Theaters von Mariupol, bei dem Hunderte Menschen gestorben sein sollen. Die zweifache Mutter sitzt heute im Straflager Nr. 22 in Krasnojarsk.
"Glauben Sie, ich werde weinen und in Hysterie verfallen, weil Sie mich zu achteinhalb Jahren Gefängnis verurteilen? Nein. Das ist nur ein neuer Lebensabschnitt. Und glauben Sie mir: Hinter Gittern gibt es viel mehr anständige Menschen als in der Regierungspartei Einiges Russland." Maria Ponomarenko
Dissidenten im "Aquarium" - dem gläsernen Käfig

Viele der Angeklagten sitzen oder stehen vor Gericht in Boxen oder "Käfigen" aus Panzerglas, im sogenannten „Aquarium“. Ihre Worte werden häufig über ein Mikrofon in den Saal übertragen. Dort sitzen auch internationale Korrespondenten, Diplomaten und russisches Publikum, das die Ansichten der Dissidenten teilt. Die Angeklagten wenden sich noch einmal an ihre Mitmenschen, bevor sie meist lange schweigen müssen.
"Hier kann man von einer Theateraufführung sprechen. Ein böses Stück, In der Diktatur wird versucht, einen Rechtsstaat vorzutäuschen. Man tut so, als gäbe es ein gerechtes Verfahren, dabei ist der Ausgang längst vorherbestimmt. Im Gerichtssaal sitzen Staatsanwälte, Verteidiger, Richter. Sie diskutieren zum Schein, für welches Vergehen ein Angeklagter wie viele Jahre, Monate oder sogar Jahrzehnte ins Lager oder Gefängnis kommt." Elina Filina
So beschreibt es Elena Filina, die viele Prozesse dieser Art beobachtet hat, als sie noch in Moskau lebte. Es ist fast paradox, dass dieses brutale Rechtsdrama mit der Möglichkeit zur abschließenden Rede im gläsernen Käfig einen Moment der freien Meinungsäußerung bietet.
Der Teenager als "Videospiel-Terrorist"
"In der fünften Klasse bekam ich Lust am Lernen, hatte in allen Fächern gute Noten und schrieb in Geschichte die besten Klassenarbeiten. Doch irgendwann in der sechsten Klasse wurde ich vom Bildungssystem enttäuscht. Das führte dazu, dass ich meinen Lehrern in einigen Fragen widersprach. Ich fing also schon damals an, Erwachsenen zu widersprechen und meine Meinung zu verteidigen." Nikita Uwarow, 16
Nikita Uwarow wurde als 14-jähriger Junge festgenommen. Mitschüler und er chatteten darüber, ein Geheimdienst-Gebäude zu sprengen, allerdings nur ein aus Pixeln bestehendes Gebäude in ihrem Computerspiel "Minecraft". Die Knallkörper, die sie gebastelt hatten, entzündeten sie auf einem verlassenen Industrieareal. Dennoch: Der "Terrorist" Nikita bekam, als er 16 war, fünf Jahre in einer Jugendstrafanstalt.
"Ich möchte einfach nur die Schule beenden, einen Beruf erlernen und dann irgendwohin ziehen, ganz weit weg von hier, um dort in irgendeinem Bereich als Freelancer zu arbeiten, damit ich die Geheimdienste hier nicht nervös mache und selbst nicht nervös werde. Ich bitte das Gericht, mir das zu ermöglichen."
Die Texte zu übersetzen, sei nicht leicht gewesen, erinnert sich die Russischdozentin Olga Gleiser, manchmal hätten ihre Studierenden an der Johannes Gutenberg Universität Mainz dabei weinen müssen. So emotional seien sie.
"Es gibt sehr viel Poesie in diesen Reden, die man erkennen muss. Die Studierenden müssen erklärt bekommen, was hier Zitat ist. Die russische Kultur ist eine zitatenreiche Kultur, man zitiert und argumentiert damit." Olga Gleiser
Sichtbarkeit für das andere Russland

Inzwischen konnten Olga Gleiser und Elena Filina "Stimmen des Widerstands" digital veröffentlichen. Nun hoffen die beiden auf einen Verlag. Sie wollen das Buch auch in den Läden sehen. Die Macht und Gefahr des totalitären Kreml-Regimes machen ihnen Angst, und sie möchten in Deutschland davor warnen. Elena Filina spürt den Einfluss des Kreml auch in Deutschland:
"Wir beobachten eine weltweite politische Kampagne, die die Kreml Ideologie in alle Winkel der Welt tragen soll, ein Kampf gegen die Demokratien, gegen freie Gesellschaften. Nicht immer ist das leicht zu beweisen, der Kreml ist extrem vorsichtig, aber seine Hand reicht auch nach Deutschland. Viele Parolen und Ideologien der AFD stimmen überein, mit der Agenda des Kremls, das macht uns große Sorgen, ich hoffe, dass man darüber öffentlich sprechen darf." Elina Filina
