"Nicht verrecken": Überlebende der KZ-Todesmärsche erinnern sich

Stand: 01.09.2022 19:00 Uhr

Der Film "Nicht verrecken" ist beim Filmkunstfest in Schwerin mit dem Förderpreis "Gedreht in MV" ausgezeichnet worden. In ihm erinnern sich Überlebende der KZ-Todesmärsche.

von Axel Seitz

In der Region zwischen dem nördlichen Brandenburg und Westmecklenburg sind sie immer wieder an Straßen, Kreuzungen und Plätzen zu entdecken: Weiße Schilder an einer kleinen verklinkerten Mauer. Sie erinnern an die KZ-Todesmärsche im Frühjahr 1945. Tausende Häftlinge wurden von SS-Wachmannschaften beispielsweise aus dem Konzentrationslager Sachsenhausen getrieben. Wer sind diese Menschen, meist junge Männer? Was haben sie erlebt. Wie wurden sie befreit? Einige Antworten versucht der Dokumentarfilm "Nicht verrecken" von Martin Gressemann zu geben.

"Wir konnten an nichts anderes denken: Gehen, gehen, gehen. Und ich stelle mir heute noch die Frage, wie kann man 250 Kilometer gehen?", erinnert sich in dem Film ein ehemaliger französischer Häftling. So wie ihm erging es auch Ukrainern, Slowaken, Polen, Belgiern. Im Frühjahr 1945 waren sie auf Todesmärschen aus den Konzentrationslagern unterwegs durch Deutschland, meist auf etwas abgelegene Wegen, aber eben auch mitten durch Dörfer und Kleinstädte. Der Dokumentarfilm "Nicht verrecken" nimmt sich wohltuend Zeit. Straßen, Wälder, Landschaften sind in ruhigen Bildern zu sehen.

Die letzten Zeugen

Regisseur Martin Gressmann kam 2015 eher zufällig mit dem Thema KZ-Todesmärsche in Berührung, ihm waren die weißen Gedenkschilder an den Straßen aufgefallen und in der Lokalzeitung las er von Feiern, die an die Befreiung der Lager erinnerten. "Ich hatte das nie geplant diesen Film. Trotzdem habe ich einfach erst mal angefangen." Er versuchte, Zeitzeugen zu überreden, vor der Kamera zu erzählen. Bei den überlebenden Opfern war das gar nicht so einfach. "Aus handwerklicher Sicht war es für mich schwierig, dass sie natürlich ihre Geschichten oft erzählt haben. Und ich versuchte, das irgendwie so hinzubekommen, dass das nicht so routiniert und nicht so oft erzählt, erscheint." Und es habe natürlich auch einige gegeben, die gar keine Lust hatten, das vor der Kamera nochmal zu erzählen.

Erschütternde Aussagen

Kinder auf einem alten schwarzweiß Foto. © Salzgeber
Fotografien helfen den Zeitzeugen sich zu erinnern.

Letztlich kommen gestandene, alte Männer zu Wort, die über ihre Jugend während der Lagerhaft im Zweiten Weltkrieg reden, das eigentlich Unfassbare schildern, sich detailliert erinnern. "Wir waren frei, ohne sich dessen bewusst zu sein. Wir waren frei, ohne befreit worden zu sein. Wir sind über die Brücke nach Schwerin herein und da waren wir nun auf uns gestellt", erinnert sich ein Mann. "Die Freiheit war für uns kein Moment der Freude. Im Herzen konnten wir die Freiheit nicht begrüßen. Wir waren einfach nur erleichtert. Herz und Geist trugen das Antlitz unserer Kameraden, die heute früh am Morgen oder am Vorabend noch gestorben sind, nur wenige Schritte von der Freiheit entfernt."

Auf Namen wird bewusst verzichtet

Martin Gressmann verzichtet in seinem Film bewusst darauf, die einzelnen Männer mit Namen als Untertitel im Bild vorzustellen. "Ein Einwand war, dass man die Menschen sozusagen nicht honoriert. Ich finde das nicht", sagt Gressmann. "Ich finde man weiß jetzt zwar nicht genau, welcher Franzose welcher ist. Aber man hat ja einen Eindruck von dem, was man gehört hat. Es gibt eine Gesamterzählung und da ist der einzelne Name nicht mehr so wichtig."

Umso wichtiger ist dieser beeindruckende Dokumentarfilm. Durch "Nicht verrecken" lernt der Zuschauer Serge, Karol, Wladimir, Eduard, Roger und andere kennen. Männer, die überlebten, die zugleich aber auch weiterleben mussten mit ihren Erlebnissen. 1945 war zwar das Jahr ihrer Befreiung, zugleich aber für manchen Russen und Ukrainer der Beginn einer erneuten Inhaftierung in Stalins Sowjetunion. Auch das macht der sehenswerte Film von Martin Gressmann deutlich.

"Nicht verrecken" hatte seine Premiere im vergangenen November bei der Duisburger Filmwoche. Beim Filmkunstfest in Schwerin ist er im Capitol Kino zu sehen: Am 2. September (ab 16 Uhr) und noch einmal am 4. September (ab 14.15 Uhr). Der bundesweite Kinostart ist für den 13. Oktober geplant.

Vom 30. August bist zum 4. September sind 21 in MV gedrehte oder geförderte Produktionen in Schwerin zu sehen. Unter anderem als einmalige Open-Air-Vorführung "Mittagsstunde" von Lars Jessen mit Charly Hübner und "Alle reden übers Wetter" von Annika Pinske.

Weitere Informationen
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Dieses Thema im Programm:

NDR Kultur | Kulturjournal | 01.09.2022 | 19:00 Uhr

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