Cover von "Küssen" von Hektor Haarkötter © S. Fischer Verlag

"Don’t talk, just kiss": Eine Kulturgeschichte des Kusses

Stand: 09.05.2024 12:49 Uhr

Was verbindet Liebeskuss, Bruderkuss, Filmkuss und den Gutenachtkuss? Warum küssen mehr als die Hälfte der Weltbevölkerung überhaupt nicht? Hektor Haarkötter hat eine Kulturgeschichte des Kusses verfasst, von der Antike bis heute.

Wer sich küsst, kommuniziert. Ohne Worte, ohne Gestik. Über die Hälfte der Menschen schließen dabei sogar die Augen - und wenn es ein richtiger Kuss ist, sind die Menschen gleichberechtigt, denn sie tun es mit dem exakt gleichen Körperteil.

Der Kuss: Zwischen unromantischer Begrüßungsform und Gewalt

Aber dann ist da noch der Funktionskuss - etwa wie Breschnew, der große Sowjet-Bruder, den hageren Honecker frühstückt. "Beim sozialistischen Bruderkuss - wie dem zwischen Leonid Breschnew und Erich Honecker - hätte niemand, auch nicht die Beteiligten selbst, romantische Gefühle. Wenn man sich die Kulturgeschichte des Küssens, die immerhin schon viele tausende Jahre alt ist, anguckt, stellt man fest, dass in langen Phasen dieser Geschichte das Küssen überhaupt nichts Romantisches war, sondern eine Begrüßungsform. Ein später Gruß dieser alten Geschichte ist vielleicht der sozialistische Bruderkuss."

Schon im Mittelalter gab es diesen Kuss des Lehnsherrn an den Vasallen. Der Kuss war Teil der Eroberung, oftmals gar nicht friedlich. Annäherung als Überwältigung. Eine toxische Grenzüberschreitung. Amor muss den Mann mit Schlägen bremsen. Wenn ein Kuss nicht erwidert wird, dann ist es - ganz klar - kein Kuss, sondern Gewalt.

Eine 5.000-Jahre alte Kulturgeschichte

Hektor Haarkötter erforscht den Kuss als Kommunikationsform. Er tut dies als erster und in betörender Vollständigkeit. An den Herpes-Bläschen der Vorzeit kann man ablesen: Das Küssen hat vor mindestens 5.000 Jahren im Kaukasus begonnen, sich aber keineswegs überall durchgesetzt. Bis heute küssen sich nur 46 Prozent der Weltbevölkerung.

"In der Antike gab es eine große Hochphase des Küssen", erklärt Haarkötter. "Die Römer haben, wenn man so sagen will, geküsst wie Sau. Die frühen Christen, die ja eine römische Kirche waren, haben dieses rituelle Küssen von den Römern übernommen und in ihre eigene Liturgie eingebaut - als Friedenskuss, als liturgischen Kuss. Auf diese Weise ist das antike Küssen durch das Mittelalter zu uns in die Neuzeit gekommen."

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Ein Paar in historischer Badekleidung küsst sich. © photocase.de Foto: una.knipsolina

Don’t talk, just kiss: Eine Kulturgeschichte des Kusses

Der Autor Hektor Haarkötter hat eine umfangreiche Kulturgeschichte des Kusses verfasst, von der Antike bis heute. extern

Eine kommunikative Zwischenform

"In Hollywood bezahlen sie dir 1.000 Dollar für einen Kuss und 50 Cent für deine Seele", soll Marilyn Monroe gesagt haben. Einer der frühesten Filme überhaupt, "The Kiss", zeigt 1896 nichts als einen Kuss. "Dieser Film hat die Menschen fasziniert, empört und gleichzeitig angeekelt. Diese heute extrem schüchternen 23 Sekunden haben einen unfassbaren Skandal gemacht und dazu geführt, dass Menschen nur ins Kino gegangen sind, um anderen Menschen beim Küssen zuzusehen", sagt Haarkötter.

... und um selbst dort zu küssen. Der Kuss ist, falls nicht im Verborgenen praktiziert, eine kommunikative Zwischenform, weil er nie ganz privat, aber auch nie ganz öffentlich ist. Im Kino war der Kuss lange eine der simpelsten Möglichkeiten, Gefühlsdarstellungen abzukürzen.

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Zwei Menschen küssen sich © imago/Westend61 Foto: Westend61

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Loslösung vom Zwang der Zeichen- und Sinnhaftigkeit

"In diesen wechselhaften Konjunkturzyklen des Kusses sind wir gerade eher wieder in einem sehr tiefen Tal angekommen. Welche Küsse bewegen heute noch die Öffentlichkeit? Wegen welcher Küsse rennen wir noch extra ins Kino? Die große Zeit des Küssens in unseren westlichen Industrienationen ist vorbei", glaubt Hektor Haarkötter. "Das hat auch damit zu tun, dass gerade auch in der Kunst und im Film heute sehr viel expliziter Formen des Körperkontakt gezeigt werden. Man hält sich nicht mehr lange mit dem Küssen auf. Dadurch hat das Küssen ein bisschen seine Funktion und seine Rolle in unserer Gesellschaft verloren."

Küssen hat sich gelöst vom Zwang der Zeichen- und Sinnhaftigkeit. Wer sich heute küsst - gegenseitiges Einverständnis vorausgesetzt - tut dies in großer Freiheit. "Don’t talk, just kiss!"

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Ein Paar küsst sich im Sonnenuntergang. © Pixabay/Stocksnap Foto: Stocksnap

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Küssen

von Hektor Haarkötter
Seitenzahl:
288 Seiten
Genre:
Sachbuch
Verlag:
S. Fischer
Veröffentlichungsdatum:
24.01.2024
Bestellnummer:
978-3-10-397433-1
Preis:
24 Euro €

Dieses Thema im Programm:

NDR Kultur | NDR Kultur - Das Journal | 06.05.2024 | 22:45 Uhr

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Sachbücher

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