Dacia Maraini und Dr. Paola Barbon sitzen auf zwei roten Sesseln im Italienischen Kulturinstitut in Hamburg. Dr. Barbon übernimmt die Moderation und Übersetzung ins Deutsche bei der Lesung mit Diskussion. © NDR

Dacia Maraini mit Neuübersetzung von "Tage im August" in Hamburg

Stand: 01.03.2024 14:21 Uhr

Im Italienischen Kulturinstitut in Hamburg hat Dacia Maraini die Neuübersetzung ihres Romans "Tage im August" vorgestellt. Ihr Romandebüt ist auch mehr als 60 Jahre nach seinem Erscheinen überraschend aktuell.

von Anina Laura Pommerenke

Es sei auch für sie etwas besonderes, ihren Debütroman nach so langer Zeit wieder in der Hand zu halten, verrät Dacia Maraini gleich auf den ersten Seiten der neu von Ingrid Ickler aus dem Italienischen übersetzten Ausgabe von "Tage im August": "Wenn ich zurückblicke, kann ich dieses Mädchen, der Schatten meines Schattens, nicht mehr erkennen. Dabei ist es immer noch da und erinnert mich durch ihr Schreiben daran, dass wir Teil einer Kontinuität sind, trotz verlorener und zerstörter Erinnerungen." Die neue Ausgabe mit minimalen Korrekturen - eine Idee ihres Verlegers, dem auffiel, wie aktuell der Roman auch heute noch ist. 1962 macht er sie über Nacht berühmt. Eine Geschichte über ein junges Mädchen im Sommer 1943 im kleinbürgerlichen, faschistischen Italien. Während im Süden schon die Alliierten auf dem Vormarsch sind, haben deutsche Nationalsozialisten und italienische Faschisten im Norden die Republik von Salò ausgerufen. Was die Zukunft bringt? Völlig unklar. Der Roman beschreibt die Spannungen zwischen den Geschlechtern, aber auch zwischen den Generationen - das war damals ein handfester Skandal!

"Tage im August" - im Italien der 1960er Jahre ein Skandal

Anina Pommerenke und Dacia Maraini © NDR
Im Gespräch mit NDR Kultur Journalistin Anina Pommerenke spricht Dacia Maraini über die Situation der Kulturschaffenden in Italien.

Darüber spricht Dacia Maraini an diesem Abend im italienischen Kulturinstitut in Hamburg nur zu gerne mit Literaturwissenschaftlerin Paola Barbon, die das Gespräch nicht nur übersetzt sondern auch mit ihrer fachlichen Expertise kundig begleitet. Es sei ein anderes Italien gewesen - damals zu Beginn der 1960er-Jahre. Sie erinnert an die mächtige staatliche Zensur, die sich damals das Recht vorbehielt, Passagen aus Filmen, Artikeln oder Büchern zu streichen. An eine Zeit, in der der Mann als Familienoberhaupt im Alleingang weitreichende Entscheidungen treffen konnte, Ehebruch für Frauen strafbar war und die Ehre von vergewaltigten Frauen durch eine Hochzeit mit dem Täter wiederhergestellt wurde. Bis sich eine mutige junge Frau namens Franca Viola dagegen zur Wehr setzte.

Roman aus der Perspektive eines jungen Mädchens

In diesem Italien erscheint 1962 ihr Buch "Tage im August" - das allerdings, so hebt Paola Barbon hervor, im italienischen Titel "La vacanza" gleich ein wichtiges Wortspiel beinhaltet. Beziehe man sich im allgemeinen Sprachgebrauch damit heute eher auf den großen Sommerurlaub, so habe man Anfang der 1960er-Jahre vermehrt die Leerstelle damit assoziiert. Und die empfindet die Protagonisten des Romans: die vierzehnjährige Anna lebt mit ihrem kleinen Bruder als Halbwaise in einem von Nonnen geführten Internat. Über den Sommer bringt der Vater die beiden in ein Haus ans Meer - und setzt ihnen eine "neue Mutter" vor. Anna will wissen, was Liebe ist. Während die Jagdbomber der Nationalsozialisten am Himmel Richtung Rom vorbeifliegen, macht sie in der Badeanstalt Savoia ihre ersten sexuellen Erfahrungen. "Im Krieg werden Beziehungen im negativen Sinne simplifiziert in Feinde und Alliierte. Es fehlt die Tiefe und Kompliziertheit von Beziehungen", beschreibt Maraini das Setting.

Die Dunkelheit hüllte uns mehr und mehr ein. Ich vergaß meinen Begleiter und dachte daran, dass das die Freiheit war, die ich jenseits der Internatsmauern hatte finden wollen. Noch immer hatte ich den Geruch nach Mehl und Knoblauchzöpfen aus der Vorratskammer in der Nase, wo wir uns versteckt und davon geträumt hatten, aus dem Internat abzuhauen. (...) Manchmal war das Pfeifen der Bomben zu hören, die Einschläge in der Ferne, und wir hielten uns ängstlich die Ohren zu. "Gott sieht alles", sagten die Schwestern voller Vertrauen, "Gott beschützt uns." Das war alles. Das Wichtigste war, dass mein Vater einmal im Monat die Gebühren zahlte. Und darüber hinaus noch etwas spendete. In der Zwischenzeit füllten sie unsere Gläser mit Kirschsaft. Als Ablenkung, damit wir nicht an das dachten, was jenseits des Tores geschah. "Die Welt ist die Hölle", flüsterten sie mit drohender Stimme. Doch jetzt war ich draußen und wollte diese Welt kennenlernen, und zwar alles. Ganz eintauchen. Aber bis jetzt schmeckte sie bitter. Leseprobe

Dacia Maraini: "Als Frau wurde man nicht ernst genommen"

Ob sie sich überhaupt bewusst gewesen sei, welchen Mut sie damals mit einer solchen Geschichte unter Beweis gestellt habe, fragt Barbon. Maraini berichtet, wie schwer es gewesen sei, als Frau ernst genommen zu werden für ihre Arbeit. Immer wieder schweift sie dabei ab, berichtet von historischen Persönlichkeiten, Geschichten, die sie recherchiert hat. Die Stellung und Entwicklung der Nonnen in der italienischen Gesellschaft beispielsweise: damals oft sehr einfache, ungebildete Frauen aus Bauernfamilien mit einem einfachen Weltbild - heute oft sehr gebildete Frauen mit Studienabschlüssen. Es sei ihr extrem wichtig, ihre Charaktere historisch akurat einzubetten, ihr Interesse gelte der sozialen Organisation einer Gesellschaft und wie diese wahrgenommen werde, fährt die Tochter eines Anthropologen fort. Ihre Themen hat sie weiterentwickelt, viele ihrer Ausführungen lassen Erinnerungen an Figuren aus späteren Romanen wach werden. Ihren Themen ist sie treu geblieben.

Besorgt um gesellschaftliche Errungenschaften

Vermutlich sind es aber auch Erfahrungen wie diese, die Maraini zu einer der wichtigsten Stimmen der italienischen Frauenbewegung machten. Für sie die wichtigste, friedliche Revolution des Landes, die einmal quer durch die Gesellschaft, alle Altersgruppen und Schichten gegangen sei. Immer wieder widmet sie sich in ihren Büchern den Rechten von Frauen und der weiblichen Identität. Nun in Zeiten des Aufstiegs rechter Parteien befürchte sie einen Rückschritt. Viele für selbstverständlich gehaltene Errungenschaften würden nun in Frage gestellt: 70 Jahre Frieden, die Demokratie, Europa - darüber hinaus beobachte sie einen schleichenden Wandel zurück zu frauenfeindlichen Denkmustern, zeigt sich die Autorin besorgt. Auch die teils pornografischen Darstellungen von Frauen in den sozialen Medien und die möglichen Auswirkungen auf das Verhalten von Jugendlichen machen ihr Sorgen.

Kein Verständnis für postfaschistische Regierung unter Meloni

Auch für die postfaschistische Regierung ihres Landes habe sie kein Verständnis - wobei sie Ministerpräsidentin Giorgia Meloni immerhin für intelligent und sehr strategisch hält und es als positives Signal wertet, dass nun zum ersten Mal eine Frau an der Spitze des Landes stehe, verrät sie im Interview. An der teils schlimmen Situation der Frauen in Italien, ändere dieser Umstand leider nichts. Das macht sie zum Beispiel an der hohen Zahl der Femizide in Italien und Europa fest. Das bedeutet, dass Frauen aufgrund ihres Geschlechts getötet werden - also weil sie Frauen sind. Oft werden diese Frauen durch Partner oder Ex-Partner umgebracht. Männer hätten in diesen Zeiten große Sorgen ihre Privilegien zu verlieren, gerade wenn sie sich über den "Besitz" von Frauen definieren. Die rechte Regierung verbreite außerdem Angst unter den Kulturschaffenden, indem sie beispielsweise wichtige Stellen in Kultureinrichtungen und im öffentlich-rechtlichen Rundfunk mit Leuten aus den eigenen Reihen besetze. Die Rechte habe die Intellektuellen schon immer als ihre Feinde angesehen. Gleichzeitig bedauere sie, dass die Linke in ihrem Land zerstritten sei und dem nichts entgegenzusetzen habe.

Als Kind zwei Jahre im Konzentrationslager

Wenn es eine diffuse Angst gebe, zum Beispiel vor Krieg, Wirtschaftskrisen, dem Klimawandel - dann brauche die Menschheit einen starken Führer, jemanden, der dem Feind Angst machen könne, entgegnet Maraini auf die Frage, wie sie sich das Erstarken von rechten Parteien in Europa erkläre. Da gehe sie mit dem Philosophen Wilhelm Reich mit, auch wenn sie nicht mit allem einverstanden sei, was er sonst geschrieben habe. "Wir leben in einer Zeit einer emotionalen Pest", sie sei ansteckend und sehr gefährlich, da die Vernunft dabei ausgeschaltet werde. Für Maraini eine wichtige Botschaft, sie selbst lebte als junges Mädchen zwei Jahre in Japan in einem Konzentrationslager, da ihr Vater sich weigerte, sich zur faschistischen Republik von Salò zu bekennen. Auch darüber hat sie ein Buch geschrieben ("Vita mia" ist 2023 auf Italienisch erschienen), auch wenn es ein langer Kampf war, weil viele alte Narben aufgerissen wurden, gerade in jetzigen Zeiten brauche es Zeitzeugenberichte - was das Publikum an diesem Abend direkt mit Applaus goutiert. Auch in "Tage in August" fließen diese Erfahrungen ein, wie Jugendliche den Krieg erleben. Wie sie merken, dass ihre Jugend zerstört wird, ohne dass ihnen genau bewusst ist, was gerade passiert.

"Die Aktualität? Die ist halt immer aktuell"

Es ist ein spannend, dieser Frau zuzusehen: deren mit dem ikonischen blauen Lidschatten geschminkte Augen immer noch hellwach funkeln, die gelegentlich zu ihrem Glas Multivitaminsaft greift. Die zu gerne ausholt beim Erzählen und dabei immer wieder andere Frauen und deren Geschichten ins Rampenlicht stellt. Über die viele sagen, dass sie den Literaturnobelpreis bekommt, wenn der mal wieder nach Italien geht. Und die auf die Frage, wie sie sich die Aktualität ihres Romans erklärt, bescheiden abwinkt: "Die Aktualität? Die ist halt immer aktuell."

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Dieses Thema im Programm:

NDR Kultur | Der Nachmittag | 28.03.2024 | 14:20 Uhr

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