Bewegt Musik Europa? Die MME Awards in Groningen
Als "European-Boarder-Breakers-Award" war dieses Musikereignis früher eine internationale Fernsehshow, präsentiert von der BBC-Moderatoren-Legende Jools Holland. Das ist seit dem Brexit vorbei, Großbritannien macht bei der europäischen Musikförderung nicht mehr mit, sämtliche öffentlich-rechtlichen Rundfunkanstalten sollen sparen. Der Nachfolgepreis "Music Moves Europe" wird in deutlichem kleinerem Rahmen verliehen, beim Eurosonic Festival in Groningen.
Was brodelt da, in den Homestudios der jungen Europäer? Was verrät ihre Musik über die Gegenwart? Die 15 Nominierten des MME Awards aus sämtlichen EU-Regionen geben einen guten Einblick und zeigen, dass es sie noch gibt, die von der europäischen Idee Begeisterten:
"Ich glaube, dass wir Glück haben, in Europa zu leben, das merken wir jetzt, wenn wir mit Musikern sprechen, die keinen EU-Pass haben, die nicht reisen können, für die es keine Programme, keinen Austausch gibt."
Das klingt wie aus einem Imagefilm zu einem europäischen Förderprojekt, aber diese beiden meinen und leben das wirklich so: Sara Gredelj aus Slowenien, Nina Korošak Serčič aus Kroatien. Getroffen haben sie sich an der Musikhochschule im österreichischen Graz. Die Musik, die sie als "Freekind." in die Welt bringen, klingt, als kämen sie aus der HipHop-Szene von Los Angeles. Wer die beiden von Freekind. sieht, traut ihnen diesen Sound kaum zu. Unterschätzt werden? "Alltag für uns!" erzählen Sara und Nina, beide Anfang 20. Der Music-Moves-Europe-Award wird ihnen helfen, noch mehr 'Credibility' zu gewinnen.
"Nach den Konzerten kommen die Menschen oft zu uns, und sagen, sie hätten einen schlechten Tag gehabt, die Musik habe sie aufgerichtet, das erleben wir häufig, dass die Leute sagen, genau das hätten sie jetzt gebraucht, und nicht so etwas Dystopisches." Die Songs der zwei Europäerinnen haben etwas Tröstliches und Aufrichtendes. Gerade Musikerinnen tragen solche Konzepte gerade in die Playlisten. Es geht um seelische Gesundheit in den Texten, ein sich aufgefangen Fühlen, die Arrangements wirken dabei wie eine wohlgewebte warme Decke. Ein Konzept, das Freekind in einer Zeit entwarfen, in der andere Musikerinnen in Schockstarre waren, mitten im Lockdown entstand ihr erster gemeinsamer Song "This too shall pass". "Wir waren nie allein, wir hatten einander, und das hat uns Kraft gegeben, etwas Kreatives zu tun, das hat uns gerettet!"
Erstaunlich überhaupt, wie viele Ausgezeichnete dieses Preisjahrgangs die Pandemie als kreativen Düsenantrieb nutzten. Yunè Pinku, irisch-malaysisch mit Kindheit in London, hat die Zeit gleich für einen neuen Entwurf von Techno genutzt. Ein Club könne einen auch überfordern, Angst machen, erzählt sie. "Bluff" heißt ihr Pandemietrack, der das Pokerface beschreibt, das die Paranoia weglächelt. Musik für all jene, die sich in Clubs eigentlich gar nicht so wohl fühlen. Yuné Pinku lässt aus schwere Beats Fragezeichen werden, sie ist derzeit die Durchstarterin der elektronischen Musik.
"Ich bin einfach total happy, stolz, das ist Europa!" ruft er aus, direkt nach der Zeremonie, der österreichische EU-Kommissar für Kultur und MME-Award Schirmherr Georg Häusler. "Junge Leute, die voller Energie sind, voller Kreativität und jetzt schon große Künstler." beschwört er den Abend. Kultur müsse entscheidend sein für Europa, sie halte alles zusammen. Das wirkt engagiert aber auch fast mantraartig. Kann Musik Europa bewegen? Das wäre eine schöne Utopie für eine taumelnde europäische Idee.
Immerhin erlebt man in Groningen an diesem Abend Menschen, die für Europa brennen, mit ihrer Musik und ihren Botschaften. "Bulgarian Cartrader" nennt sich Daniel Stoyanov, geboren in Sofia, aufgewachsen in Süddeutschland, heute lebt in Berlin. Schon sein Künstlername spielt mit Klischee und Zuschreibung: "Ich glaube, dass der Westen eine Fantasie hat, wie der Balkan ist." Ein Wilder Osten, wie man ihn aus Filmen und Witzen kennt. "Das ist teilweise richtig, aber doch ein bisschen auf eine ‚Punchline‘ gebracht. Wenn ich mir das alltägliche Leben in Bulgarien angucke, hat das schon andere Facetten." Bulgarian Cartraders Social-Media-Team besteht folgerichtig aus drei bulgarischen Großmüttern vom Land, mit Kopftuch, High-Speed-Internet und einem analogen Glücksesel, der "Algorithmus" heißt:
"Die Grandma- Media-Group, die machen das komplette Marketing, die machen das mit anderen Strategien, Balkan-Vodoo, und es funktioniert sehr gut ich bin hier nominiert!" …und ausgezeichnet. Allein für dieses leichtfüßige Spiel mit Identität, Heimatliebe, Persona und Ironie hätte der Bulgarian Cartrader seinen Preis schon verdient. "Ich bewege mich in so einem Bereich der Fantasien, der Wünsche, der Sehnsüchte und der absurden Unmöglichkeiten. Europa als kultureller Gesamtort, all das gehört dazu. Wir waren schon immer eine kulturelle Einheit." Die lebt auch Zaho de Sagazan aus Frankreich, mit Haupt- und Publikumspreis die große Abräumerin dieses Awards. Sie bezieht sich mit ihren modernen Chansons auf den deutschen Krautrock der 70er und 80er, geht mit modularen Synthesizern auf die Bühne und haucht dann einen europäischen Welthit, der 20 Jahre vor ihrer Geburt entstanden ist "99 Luftballons". Möge der etwas hemdsärmelige Friedensappell des Nena Songs wirken!
