Andreas Gardt © Andreas Gardt
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AUDIO: Andreas Gard: "Muttersprache und Identität hängen massiv zusammen" (6 Min)

Andreas Gardt: "Muttersprache und Identität hängen massiv zusammen"

Stand: 21.02.2023 19:42 Uhr

Wie beeinflusst die Sprache, die wir sprechen, unser Denken, unser Fühlen, unsere Identität? Dazu forscht der Sprachwissenschaftler Andreas Gardt. Ein Gespräch.

Herr Gardt, angeblich haben Eskimos mehrere Begriffe für Schnee. Ist das ein Beispiel dafür, dass wir die Welt unterschiedlich wahrnehmen, wenn wir unterschiedliche Sprachen sprechen?

Andreas Gardt: Ob Sie dieses Beispiel nehmen oder ein anderes, ist im Grunde egal. Natürlich beeinflusst die Sprache das Denken, sowohl individuell als auch auf Gruppen bezogen. Wenn ich in ein Land komme, in dem es 15 Wörter für Schnee gibt - nehme ich dann die Sachen anders wahr oder nehme ich sie nicht anders wahr? Das ist eine ganz entscheidende Frage, und sie ist letztlich nicht gelöst. Es gibt Untersuchungen zu Farbwahrnehmungen: Wenn Sprachen bestimmte Farben nicht auszeichnen und sie Orange oder Lila als Mischfarben wahrnehmen - sehen die Leute die Sachen dann anders oder nicht? Dazu gibt es sehr unterschiedliche Aussagen. Das ist ein Punkt, der nach wie vor sehr umstritten ist.

Das gibt es im Wortschatz, zum Beispiel bei den Schnee-Wörtern. Das gibt es aber auch in der Syntax: Bei Sprachen, die eher aus Passivkonstruktionen bestehen, könnte man sagen, dass die Leute die Welt eher passivisch wahrnehmen. Oder ist das Unsinn? Es gibt eine berühmte Kafka-Übersetzerin, die gesagt hat, dass die Deutschen eine Sprache haben, die sie zu Machtmenschen erzieht, weil sie eine sogenannte Satzklammer hat. Zum Beispiel: "Sie hatte mich gestern vor meinen Freunden lauthals ..." - was jetzt, "angeschrien" oder "gelobt"? Man muss warten, bis am Schluss das infinite Verb kommt - vorher weiß man es nicht. Im Englischen ist es umgekehrt: "He shouted at me ..." oder "He praised me ...". Sind die Engländer deswegen demokratischer, weil die Deutschen warten müssen, bis alles geordnet am Schluss geklärt wird? Oder ist das Unsinn? Das lässt sich letztlich nicht klären.

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Da haben Sie den Bogen quasi schon geschlossen - von einem Vokabular zur Wahrnehmung der Wirklichkeit und dann der Interpretation. Wäre das der Moment, wo man sagen kann: Hier ist Muttersprache entscheidend für eine - wie auch immer geartete - Identität?

Gardt: Muttersprache und Identität hängen massiv zusammen - und zwar individuell wie auch auf eine Gruppe bezogen. Das kann von einer kleinen Gruppe bis zu einer ganzen Nation reichen. Angenommen, wir zwei hätten im Vorfeld ein Gespräch geführt und wir hätten das Thema "Gendern" erwähnt und ich hätte wüst geschimpft, entweder für oder gegen das Gendern. Dann hätten Sie vielleicht Ihren Kollegen gesagt, dass Sie mich unmöglich als Gesprächspartner nehmen können. Wenn ich vulgär gewesen wäre, hätten Sie nicht gesagt: "Der redet vulgär", sondern "Der ist vulgär". Das heißt, Sie hätten automatisch - völlig verständlicherweise, das machen wir immer - die Person mit der Sprache identifiziert. Das Gleiche gilt aber auch für eine Gruppe: Wenn jemand Bayerisch spricht, dann gehört er zu den Bayern. Jugendliche reden so, dass sie sich abgrenzen von den Erwachsenen. Das hat was mit Identität zu tun.

Auf der Ebene der EU gibt es 26 Begriffe aus dem gastronomischen Bereich, für die Österreich durchgesetzt hat, dass die in allen Dokumenten auf Österreichisch auftauchen. Wenn also etwa von Kartoffeln die Rede ist, dann wird es ins Englische mit "potatoes" übersetzt, mit "pommes" ins Französische und ins Österreichische mit "Erdäpfel". Nicht, weil die österreichischen Abgeordneten nicht wissen, was eine Kartoffel ist, sondern weil es Ausdruck ihrer Identität ist, dass man das so verwendet. Sie bestehen darauf, weil sie sagen: Wir haben eine andere Identität und die drückt sich auch in unserer Sprache aus.

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Sie haben ein schönes Beispiel angesprochen - zwischen österreichischem und deutschem Deutsch. Aber dieses Deutsch ist doch alleine schon ein Konstrukt im 18. oder 19. Jahrhundert gewesen. Früher gab es doch viel mehr deutsche Sprachen, oder?

Gardt: Es gab früher nur regionale Sprachen. Das Hochdeutsche hat sich erst im 17. Jahrhundert herausgebildet. Das, was wir "Hochdeutsch" nennen, ist so eine überdachende Form: Das verstehen und sprechen Leute eigentlich überall. Daneben sprechen manche noch ihren jeweiligen Dialekt oder ihren Soziolekt unterhalb des Hochdeutschen. Aber das ist normal, das gibt es eigentlich in jeder Sprache.

Diese alltäglichen Abweichungen, ob jemand Schwäbisch spricht oder mit Friesisch oder Plattdeutsch aufgewachsen ist - welche Rolle spielt das für Identität und Wahrnehmung?

Gardt: Das spielt eine große Rolle für Identität. Allerdings nicht in dem Sinne, dass sie die Dinge anders sehen. Es ist eher eine Frage der Kommunikation. Identität ist zum einen an die Struktur einer Sprache gebunden - die Schnee-Wörter, aktiv, passiv und so weiter - und an die Art und Weise, wie wir miteinander umgehen. Das Duzen und das Siezen ist beides im Deutschen möglich. Vor drei, vier Jahrzehnten war es unmöglich, im öffentlichen Raum einen Erwachsenen einfach zu duzen. Inzwischen ist das so: Gehen Sie ins Fitnessstudio, werden Sie sofort geduzt. Aber das liegt nicht an der Struktur des Deutschen, sondern es liegt an der Art und Weise, wie man im Alltag miteinander umgeht. Das ist eine Frage des sozialen Umgangs miteinander. Das ist oft viel entscheidender, als es die Strukturen der Sprache selbst sind.

Das Interview führte Mischa Kreiskott.

Dieses Thema im Programm:

NDR Kultur | Journal | 21.02.2023 | 16:45 Uhr

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