AKW Emsland weiter am Netz: Niedersachsens Grüne "irritiert"
Die Entscheidung von Bundeskanzler Scholz, das AKW Emsland nun doch vorübergehend am Netz zu lassen, ruft in Niedersachsen gemischte Reaktionen hervor. Deutliche Kritik kommt von den Grünen.
Die Grünen-Politiker Julia Willie Hamburg und Christian Meyer bezeichneten die Anordnung von Bundeskanzler Olaf Scholz (SPD), auch das Atomkraftwerk Emsland bis maximal 15. April weiter zu betreiben, als "unnötig und ohne fachliche Grundlage". Der Ausbau und die Nutzung der erneuerbaren Energien würden so blockiert. "Das Vorgehen des Kanzlers, in der Frage eine Richtlinienkompetenz zu ziehen, und damit kein gemeinschaftliches Vorgehen abzustimmen, ist in hohem Maße irritierend." Die durch das in der Nähe von Lingen gelegene AKW erzeugte zusätzliche Strommenge sei minimal, dafür bleibe es "auch in den nächsten Monaten ein Sicherheitsrisiko", sagte Hamburg dem NDR in Niedersachsen.
Keine Auswirkungen auf Koalitionsgespräche
Die derzeit laufenden Koalitionsgespräche mit der niedersächsischen SPD sieht Hamburg durch das Machtwort des Bundeskanzlers nicht beeinträchtigt. Man sei sich einig, dass der Weiterbetrieb überflüssig sei und man sich für eine andere Entscheidung eingesetzt habe, so Hamburg. Auch Niedersachsens Umweltminister und Vize-SPD-Chef Olaf Lies sagte, es handele sich um eine Entscheidung auf Bundesebene: "Das können wir voneinander trennen."
RWE bereitet Weiterbetrieb vor
Lies hatte, wie auch Ministerpräsident Stephan Weil (SPD), in den vergangenen Wochen stets betont, dass es aus niedersächsischer Sicht nicht notwendig sei, das AKW über das Jahresende hinaus in Betrieb zu lassen. Gleiches hatte der Stresstest des grün geführten Bundeswirtschaftsministeriums ergeben. Nach Scholz' Anordnung, neben Isar 2 in Bayern und Neckarwestheim 2 in Baden-Württemberg auch das Atomkraftwerk Emsland vorübergehend am Netz zu lassen, sagte Weil: "Wenn der Bund entgegen seiner ursprünglichen Einschätzung zu der Überzeugung kommt, dass auch das AKW Emsland bis Mitte April gebraucht werde, werden wir in Niedersachsen die auf Landesebene dafür notwendigen Voraussetzungen schaffen." Und auch der Energiekonzern RWE will sich auf den Weiterbetrieb seines Atomkraftwerks vorbereiten. Man könne den Beschluss in der aktuellen Energiekrise nachvollziehen, teilte der Betreiber dem NDR in Niedersachsen mit. Damit sei es jetzt möglich, klar zu planen.
Forscher: Kaum Auswirkungen auf Energiesystem
Umweltminister Lies erklärte, sein Ministerium als zuständige Atomaufsichtsbehörde sei auf die anstehenden Prüfschritte vorbereitet. Jedoch werde "das AKW Emsland keinen wirklichen Beitrag" zur Lösung der aktuellen Herausforderungen leisten. Die Brennstäbe seien schon jetzt so gut wie aufgebraucht. Auch wenn sie neu konfiguriert würden, könnte das Atomkraftwerk nur eine begrenzte Leistung erbringen, so Lies. Dem Kauf neuer Brennstäbe erteilte er eine Absage. Das sei ökonomisch auch nicht sinnvoll, sagte der Klima- und Energieforscher Pao-Yu Oei von der Europa-Universität Flensburg. Ihm zufolge hat der Weiterbetrieb kaum Auswirkungen auf das Gesamt-Energiesystem und sei daher "hauptsächlich eine politische Diskussion". Für die Verbraucherinnen und Verbraucher werde sich dadurch kaum etwas ändern, da nur minimal weniger Gas verbraucht werde.
Grüne Jugend Niedersachsen: "Reine Symbolpolitik"
Die Grüne Jugend in Niedersachsen kritisierte die Entscheidung des Kanzlers. Es handele sich um "reine Symbolpolitik", die keine inhaltliche Grundlage habe und nicht zur Versorgungssicherheit beitrage, sagte Landessprecher Felix Hötker im Gespräch mit NDR Info. Schlimmstenfalls müssten sogar erneuerbare Energien wegen Netzverstopfung durch den Atomstrom abgeschaltet werden.
Wissenschaftler: "Grüne und FDP erleichtert über Machtwort"
Der Politikwissenschaftler Thorsten Faas sagte NDR Info, Scholz sei nicht der erste Bundeskanzler, der mit seiner Richtlinienkompetenz drohe. Bemerkenswert sei aber, dass er dabei gegenüber seinen Ministern "die Briefform gewählt hat, um sich durchzusetzen". Die Richtlinienkompetenz des Regierungschefs ist in Artikel 65 des Grundgesetzes verankert. Demnach bestimmt der Kanzler "die Richtlinien der Politik und trägt dafür die Verantwortung". Bei Meinungsverschiedenheiten zwischen den Bundesministern "entscheidet die Bundesregierung". Der Streit in der Regierung über die AKW-Frage sei "unglaublich zersetzend" gewesen, so der Politikwissenschaftler. Offenbar seien FDP und Grüne nun "auch ein Stück weit erleichtert, dass man einen Weg gefunden hat, um aus dieser Krise herauszukommen".
Grünen-Fraktionsspitze empfiehlt Zustimmung
Der grüne Bundeswirtschaftsminister Robert Habeck hatte am Montagabend in den ARD-Tagesthemen angekündigt, das Machtwort des Kanzlers zu akzeptieren. Die von Scholz mit "maximaler Autorität" getroffene Entscheidung sei eine "unübliche Lösung einer verfahrenen Situation" und "ein Weg, mit dem ich gut arbeiten und leben kann". Auch die Spitze der Grünen-Bundestagsfraktion kündigte am Dienstag an, trotz Bedenken in der Fraktion für Zustimmung zu werben. Die FDP, die gefordert hatte, alle drei verbliebenen AKW bis 2024 weiterlaufen zu lassen, begrüßte das Machtwort des Kanzlers.
Lob von der IHK, Entsetzen bei Atomkraftgegnern
Zustimmung kam auch von der Industrie- und Handelskammer (IHK) Osnabrück-Emsland-Grafschaft Bentheim und von CDU- und FDP-Bundestagsabgeordneten aus der Region. Empörung herrschte dagegen bei den Atomkraftgegnerinnen und -gegnern im Emsland. Die weitere Nutzung der alternden Kraftwerke sei gefährlich und stelle ein erhebliches Sicherheitsrisiko dar, erklärten mehrere Initiativen in Lingen. Die Entscheidung sei rein politisch motiviert, um die FDP zu beruhigen.