Die Fraktionsvorsitzende der Grünen, Julia Willie Hamburg, steht am Rednerpult im Niedersächsischen Landtag. © picture alliance / Fotostand | Fotostand / Matthey Foto: Fotostand / Matthey

Grüne - eine Bilanz nach fünf Jahren Opposition

Stand: 04.09.2022 15:00 Uhr

Die Grünen in Niedersachsen mussten sich zunächst in ihrer neuen Rolle als Mäkler statt Macher zurechtfinden. Führende Köpfe verließen die Fraktion. Am Ende steht ein "knallharter Machtanspruch".

von Sophie Mühlmann

Diesmal sind die Grünen das Zünglein an der Waage, die Königsmacher. Das war bei der letzten Landtagswahl noch ganz anders. Da erreichte die Partei gerade einmal 8,7 Prozent der Wählerstimmen - weit entfernt von den 13,7 Prozent der vorherigen Wahlperiode, bei der es tatsächlich für den Posten des Juniorpartners in der damals rot-grünen Landesregierung gereicht hatte. Wie hat sich die Partei in den vergangenen fünf Jahren von diesem Tief wieder hochgearbeitet? Eine Bilanz.

Plötzlich in der Opposition

Porträtaufnahme von Sophie Mühlmann © NDR
Sophie Mühlmann bilanziert die Oppositionsarbeit der Grünen.

Am Anfang dieser Legislaturperiode steht ein Verrat. Elke Twesten, eine Grünen-Hinterbänklerin aus Scheeßel, läuft im August 2017 aus heiterem Himmel zur CDU über. Zuvor hatte sie ihr Kreisverband nicht wieder zur Direktkandidatin für die Landtagswahl gekürt. Damit ist die hauchdünne Mehrheit der rot-grünen Koalition dahin. Nach vorgezogenen Neuwahlen und einer herben Wahlschlappe von 8,7 Prozent werden die Grünen in die Opposition katapultiert.

Abkehr vom Wunschpartner SPD

Die Fraktion muss sich aus den Trümmern wieder hocharbeiten, neu positionieren und fachlich neu aufstellen. Vom Machen zum Mäkeln, vom Regieren zum Kritisieren. Und von einem Tag auf den anderen ist der alte Koalitionspartner SPD nun der neue Gegner - obwohl man sich inhaltlich eigentlich nähersteht als allen anderen in Niedersachsens Parteienlandschaft. Nun aber kabbelt man sich im Landtag, findet Haare in der Suppe, wo es nur geht, prangert an: beim Thema Bildung, Klimaschutz und Finanzen. Bloß keine Gemeinsamkeiten mehr - ein lautstarker Ablösungsprozess zelebriert für die Öffentlichkeit.

Streit um neuen Feiertag

Wie etwa beim Streit um den neuen niedersächsischen Feiertag im Sommer 2018: Die Grünen-Fraktion hatte sich für die Einführung des Frauentags am 8. März und des Europatags am 9. Mai ausgesprochen. Stattdessen wird der Reformationstag am 31. Oktober durchgesetzt. Eine "Entscheidung im Hinterzimmer" durch die rot-schwarze Koalition, kritisiert Grünen-Chefin Anja Piel und überreicht dem Ministerpräsidenten demonstrativ eine goldene Brechstange im Plenum. Zwischen den einstigen Partnern herrscht dicke Luft.

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Schulterschluss mit der FDP

Stattdessen findet nun eine strategische Annäherung zur FDP statt - obwohl die 2017 rundheraus erklärt hatte, eine Zusammenarbeit mit den Grünen sei ausgeschlossen. Nun aber rauft man sich zusammen, sucht nach, wenn auch kleinen, Schnittmengen, wettert gemeinsam gegen Schwarz-Rot. So setzen sich etwa die beiden Oppositionsparteien dafür ein, die Minderheitenrechte im Landtag zu stärken. Im Frühjahr ziehen sie gemeinsam gegen das rot-schwarze Polizeigesetz zu Felde. Das sei verfassungswidrig und "verramsche die Bürgerrechte", schimpft Belit Onay, damals noch innenpolitischer Sprecher der Grünen-Fraktion, heute als erster Grüner Oberbürgermeister der Landeshauptstadt Hannover.

Grüne und FDP machen sich für Cannabis-Legalisierung stark

Und es gibt noch ein gemeinsames Thema: die kontrollierte Abgabe von Cannabis. Im Juni 2018 ziehen FDP und Grüne an einem Strang und fordern die Landesregierung auf, einen entsprechenden Modellversuch zu starten - allerdings ohne Erfolg. "In bürgerlichen Fragen", so Anja Piel, gebe es mit der FDP durchaus Gemeinsamkeiten. "Nur in der Frage der Mobilität geht es bei uns auseinander - wir plädieren ganz klar für das Fahrrad, der frühere Verkehrsminister Jörg Bode (FDP) beharrt auf seinem GTI." 

Grüne Kernthemen: Der Wolf

Doch die Partei hat auch ihre Kernthemen, wie zum Beispiel den Wolf. Der breitet sich in Niedersachsen schneller aus, als in anderen Teilen Deutschlands und ist eine der Fragen, bei denen sich die Grünen klar positioniert haben. Für sie ist die Rückkehr dieses Wildtieres ins Land eine Erfolgsgeschichte, keine Gefahr. Jagd auf den Wolf ist aus grüner Sicht illegal. Sie rügen die CDU-Agrarministerin für ihre Forderung, zum Schutz der Nutztierhalter den Abschuss von Wölfen zu ermöglichen. Fraktionsvize Christian Meyer spricht von "billigem Populismus auf dem Rücken des Naturschutzes".

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Wechsel an der Spitze

Zur Halbzeit der Legislaturperiode wechselt Anja Piel in den Bundesvorstand des DGB. Die Fraktionsvorsitzende ist sehr beliebt, trotzdem, so der Tenor, sei dies der richtige Zeitpunkt für eine Ablösung, für ein neues Gesicht. Im März 2020 wählen die Grünen die Abgeordnete Julia Willie Hamburg zu Piels Nachfolgerin. Das Timing ist heikel: Hamburgs Start als Fraktionschefin fällt leicht holprig aus. Sie sei zu links, hört man aus politischen Kreisen, sie habe nicht einmal zu Ende studiert - die neue Frau an der Spitze muss sich beweisen. Die Corona-Pandemie wirft ihre Schatten über alle anderen politischen Themen, Corona lässt Julia Willie Hamburg anfangs kaum Zeit, sich in Ruhe auf dem neuen Posten zu etablieren. Dann aber macht sie die Pandemie zu ihrem ureigenen Thema.

Corona-Pandemie polarisiert im Niedersächsischen Landtag

Corona bietet Hamburg und ihren Fraktionskollegen immer wieder Gelegenheit, die Verordnungen der Landesregierung zu kritisieren, teilweise fast gebetsmühlenartig und in jedem Plenum aufs Neue: Luftfilter in den Schulen, Abwasseruntersuchungen in Infektions-Hotspots und überhaupt die Kinder in der Pandemie. Julia Willie Hamburg hebt achselzuckend am Rednerpult die Hände - ihre Signatur-Geste - und prangert ein ums andere Mal an, was alles von der Großen Koalition verschlafen werde. Ähnlich hält es ihr Stellvertreter Christian Meyer, der mit ungetrübt bubenhaftem Schmunzeln eine Breitseite nach der anderen in Richtung Landesregierung abfeuert, zuletzt vor allem zum Thema Energiewende.

Stefan Wenzel und Helge Limburg wechseln nach Berlin

Nach der Bundestagswahl im September 2021 verlassen noch weitere einflussreiche Grüne die Landtagsfraktion: mit dem einstigen Umweltminister Stefan Wenzel und dem langjährigen parlamentarischen Geschäftsführer Helge Limburg wechseln zwei der bekanntesten Köpfe der Partei zum Bund nach Berlin. Wenzel ist inzwischen neuer Parlamentarischer Staatssekretär unter Robert Habeck. Nach ihrem Weggang muss sich die Fraktion einmal mehr fachlich neu aufstellen.

Krieg und Energiewende

Die Themen gehen den Grünen dabei nicht aus. Der russische Angriff auf die Ukraine, Moskaus Gas-Knebel und die damit verbundene Energiekrise sowie der Turbo für die Energiewende sind urgrüne Inhalte. Allerdings geht es bei den Debatten am Ende allzu oft nur darum, wer in der Vergangenheit was verschleppt oder verschlafen hat, die Redebeiträge - auch die der Grünen - sind nur wenig konstruktiv. Erst beim wieder aufflammenden Streit um den Atomausstieg, um Laufzeitverlängerung oder Streckbetrieb der Kernkraftwerke zeigt die Partei eine klare Haltung und stellt sich dabei sogar gegen den kompromissbereiteren Ansatz der Grünen in der Bundesregierung.

"Knallharter Machtanspruch"

Und dennoch: In diesen letzten Monaten der Legislaturperiode haben die Grünen im Landtag mehr und mehr ihre Krallen eingezogen und stattdessen wieder die Samthandschuhe übergestreift. Schließlich bleibt die SPD ihr Wunsch-Koalitionspartner. Man sei allerdings offen in alle Richtungen. Nur eines steht für Niedersachsens Grüne fest, denn schließlich haben ihre Parteikollegen im Bund den Weg geebnet: ihr "knallharter Machtanspruch".

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Dieses Thema im Programm:

NDR 1 Niedersachsen | Funkbilder - der Tag | 31.08.2022 | 16:00 Uhr

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