Wenn Lehrkräfte verzweifeln: Die IGS Stöcken schlägt Alarm

Stand: 09.02.2024 20:57 Uhr

Gewalt, Vandalismus, Bedrohungen: Die IGS Stöcken in Hannover schlägt Alarm. In einem Hilferuf an die Schulbehörde beklagen Lehrkräfte die Situation an der Schule.

von Hans-Christian Hoffmann

Fast täglich müssten Schüler oder Schülerinnen vom Unterricht ausgeschlossen werden, heißt es in dem Brief. Das Schulpersonal habe keine Kraftreserven mehr. Erst im Dezember hatten Lehrkräfte der IGS Büssingweg in Hannover in einem Brandbrief an Behörden und Politik Gewalt und Vandalismus an der Schule geschildert - und um Hilfe gebeten.

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Brennpunktschule mit Schülern aus 40 Nationen

Die IGS Stöcken gilt als sogenannte Brennpunktschule. Rund 900 Schülerinnen und Schüler aus geschätzt 40 Nationen besuchen die Schule, die für viele kein entspannter Ort zum Lernen ist. Ein Beispiel von vielen: Der Brief eines Vaters an die Schulleitung vom Januar. "Seit einigen Tagen beschwert sich unser Kind über seinen Alltag an der Schule. Er wird ständig belästigt, beleidigt, gemobbt, bedroht und geschlagen."

Toiletten werden gemieden - wegen angeblicher Filmaufnahmen

Die Lehrkräfte bestätigen Schülerberichte, wonach einige Schüler ständig Messer oder andere Waffen bei sich tragen würden. Vor einiger Zeit sei, so steht es in dem Brief an den Schulträger, ein Kind außerhalb der Schule mit einer Eisenstange bewusstlos geschlagen worden. Nach einem Krankenhausaufenthalt habe es sich nicht mehr in den Unterricht getraut. Viele Schüler meiden die Toiletten, weil sie dort belästigt und gefilmt würden. Die Videos tauchten dann in den sozialen Netzwerken auf.

Religion hat einen höheren Stellenwert als das Grundgesetz

In einem Klassenzimmer der IGS Stöcken steht auf einem Zettel: "Der Spaß ist vorbei, wenn es verletzt, beleidigt, nervt. Wenn es weh tut." © NDR
Mit solchen Hinweis-Zetteln wirbt die Schule für einen gewaltfreien Umgang.

In dem Schreiben heißt es außerdem: "Homosexualität und sexuelle Diversität widersprechen der religiösen Auffassung nicht weniger Schüler-/innen. Für sie und ihre Familien hat ihre diesbezügliche Religionsauffassung einen höheren moralischen Stellenwert als unser Grundgesetz. Entsprechende Programme zur Toleranz stoßen auf Widerstand."

Familien vermitteln ein bestimmtes Bild von Männlichkeit

Anja Mundt-Backhaus ist Didaktische Leiterin der IGS. Sie und ihre Kollegen und Kolleginnen, sagt sie, "gucken da hin, wir kümmern uns, aber wir kommen nicht mehr hinterher. Es ist einfach zu viel geworden." Der Fehler im System beginne in den Familien. Dort werde den Kindern oft ein Männlichkeitsbild vermittelt, das Gewalt für legitim, für männlich hält, so beschreibt es eine Untersuchung des Kriminologischen Forschungsinstitutes Niedersachsen. Später gebe die Peergroup den Ton an, in dem sich Jungen, aber auch Mädchen behaupten müssten.

Eltern sind kein Vorbild - im Gegenteil

Die Familien der Täter seien oft schwer zu erreichen, sagt Backhaus. "Wir haben es hier überwiegend mit bildungsfernen Eltern zu tun. Viele haben auch tatsächlich Ressentiments gegenüber Schule. Viele sprechen kein Deutsch oder nicht ausreichend Deutsch, sodass wir mit ihnen nicht vernünftig arbeiten können, weil wir keine Dolmetscher haben." Ein Vorbild sind wohl einige kaum. Eltern hätten sich, so beschreibt es die Schule, auf dem Schulhof schon geprügelt.

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Schule fordert Sicherheitsdienst - Stadt lehnt ab

Die Liste der Maßnahmen, die nach Ansicht der Schule nötig wären, um eine Besserung herbeizuführen, ist lang. Aber fürs Erste fordert die Schule einen Sicherheitsdienst für den Schulweg und den Pausenhof. Die Stadt Hannover ist der Schulträger und Oberbürgermeister Belit Onay (Grüne) hält nichts von Sicherheitsdiensten. Das könne nur eine vorübergehende Maßnahme sein. Er wolle keine amerikanischen Verhältnisse, weil sie die Gewaltspirale befeuern würden, zumal auch ein Sicherheitsdienst nicht die Befugnis hätte, Taschenkontrollen durchzuführen. Stattdessen brauche es ein "Commitment, eine gemeinsame Verabredung mit den Schülerinnnen und Schülern, dass Gewalt verbannt wird."

Mehr Personal, Umbauten - und Dolmetscher nötig

Anja Mundt-Backhaus meint, dass sie das ja schon seit Jahren versuchen. Nur alle bisherigen Bemühungen scheinen nicht gefruchtet zu haben. Es brauche mehr, zum Beispiel:

  • Kleinere Klassen
  • Mehr Personal für die Gestaltung von Pausenangeboten
  • Mehr Lehrkräfte und Schulsozialarbeiter
  • Bauliche Veränderungen in den Toiletten, um Filmen und Fotografieren zu unterbinden
  • Deutlich mehr Mittel für Gewaltprävention
  • Dolmetscher

IGS braucht Hauptschullehrer - und bekommt Gymnasiallehrer

Die Schulleitung habe mit einem, wie sie feststellt, widersinnigen System zu kämpfen. Obwohl es in der IGS Stöcken keinen gymnasialen Zug gebe, dürften nur Gymnasiallehrer oder -lehrerinnen eingestellt werden. Sie bräuchten aber vor allem Real- und Hauptschullehrer. Das Kultusministerium hat dafür jedoch einen Grund: Es gebe zu wenig Bewerbungen für Haupt-, Real- und Oberschulen. Dem gegenüber stehe eine hohe Zahl an Bewerbungen für das Lehramt an Gymnasien. Und die müssten irgendwie untergebracht werden. Kurz gesagt: Die Arbeit an einer Haupt- oder Realschule scheint im Gegensatz zum Gymnasium unattraktiv zu sein.

Onay: Stadt sucht nach Lösungen

Die Not an Fachkräften in der IGS wird sich offensichtlich nicht schnell beheben lassen. Das Kultusministerium stellt fest, dass im nächsten Jahr ein Sozialindex implementiert werden soll, um Ressourcen dort einzusetzen, wo sie am dringendsten gebraucht werden. Außerdem habe der Bund ein Startchancen-Programm aufgelegt, sprich Gelder locker gemacht, von dem auch die IGS Stöcken profitieren würde. Oberbürgermeister Onay bestätigt zudem, dass es Gespräche mit der Schule gebe. Man wolle möglichst bald sehen, wie die Lage in der Schule verbessert werden könne und schauen, was genau nötig sei, um die Sicherheit von Schülern und Lehrpersonal sicherzustellen.

Schätzungsweise 15 Prozent stören den Schulfrieden

Viel Hoffnung auf schnelle Besserung hat das Kollegium der IGS nicht. Der Brandbrief beschreibt das so: Immer wieder müsse die Polizei in die Schule gerufen werden. Nach wie vor gebe es Ermittlungsverfahren gegen Schülerinnen und Schüler. Klar ist aber auch, die meisten Schüler und Schülerinnen seien sozial angepasst und würden eigentlich gern in die Schule gehen. Aber schätzungsweise 15 Prozent der Schüler würden immer wieder den Schulfrieden empfindlich stören.

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Hallo Niedersachsen | 09.02.2024 | 19:30 Uhr

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