"Es erlaubt mir zu trauern" - Abschied nach 79 Jahren

Stand: 10.04.2022 17:55 Uhr

Schüler der Oberschule Seesen konnten drei Tote in einem Massengrab auf dem Friedhof Seesen-Münchehof identifizieren. Französische Nachfahren haben das Grab am Sonntag im Rahmen einer Gedenkfeier besucht.

von Theresa Möckel

Patrice Cordier ist 84 Jahre alt, er lebt in Paris. An seinen Vater Maurice Cordier hat er nur noch bruchstückhafte Erinnerungen. "Ich erinnere mich besonders an die Radtouren mit ihm um St. Etienne und im Baskenland. Er war ein ausgezeichneter Vater." Patrice Cordier sieht seinen Vater das letzte Mal im August 1943. Knapp drei Monate später, am 30. November 1943, wird Maurice Cordier von der Gestapo verhaftet. Er war in der Résistance, dem französischen Widerstand gegen die Nationalsozialisten, aktiv.

Erster Besuch am Grab

Patrice Cordier wusste davon als Kind nichts. Wo sein Vater beerdigt wurde, erfuhr er durch seine Großeltern. Sie erhielten nach dem Krieg von den Mithäftlingen ihres Sohnes, die überlebt hatten, Berichte und Informationen über den Ort der Beerdigung: den Friedhof Seesen-Münchehof. Nach vielen Jahrzehnten unternimmt Patrice Cordier nun endlich die Reise: Zur Gedenkfeier besuchte er am Sonntag das erste Mal das Grab seines Vaters.

Drei Männer konnten identifiziert werden

Eine schwarz-weiß Fotografie zeigt einen Mann mit einem Kind an der Hand. © Patrice Cordier
Ein altes privates Foto: Maurice Cordier mit seinem Sohn Patrice.

Maurice Cordier, Auguste Barray und André Gagneux - das sind die Namen der französischen KZ-Häftlinge. Sie wurden ins KZ Buchenwald deportiert, später in das Lager Mittelbau-Dora bei Nordhausen verlegt. Gegen Ende des Krieges räumten die Nationalsozialisten das Lager. Die Häftlinge sollten weiter zum KZ Neuengamme transportiert werden. Der Räumungstransport startete am 5. April 1945 in Nordhausen und strandete aufgrund beschädigter Gleise in Osterode. Häftlinge, die noch laufen konnten, wurden zu Fuß über den Harz geschickt. Die anderen fuhren nach der Reparatur der Gleise weiter in Richtung Norden. Der Zug stoppte in Münchehof - endgültig. Etwa 400 Menschen überlebten den Transport. Die Alliierten fanden im Zug 23 Leichen. Sie wurden in einem Massengrab auf dem Friedhof Münchehof bestattet.

Neue Erkenntnisse über das Massengrab

Münchehof ist ein Ortsteil von Seesen, am Rande des Harzes. Zur Erinnerung an die Toten wurde ein Gedenkstein aufgestellt. Geschichtslehrer Thomas Droste und die Schülerinnen und Schüler des Gedenkstättenprojekts der Oberschule Seesen waren überrascht, als sie im September 2021 neue Erkenntnisse über die Toten im Massengrab gewinnen konnten.

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Buch aus Frankreich liefert Augenzeugen-Berichte

Nach einer Recherche-Anfrage an das KZ Mittelbau-Dora erfuhr Thomas Droste vom "Buch der 9.000 aus Frankreich nach Mittelbau-Dora Deportierten" (original: "Le livre des 9.000 déportés de France à Mittelbau-Dora", erschienen im September 2020) von Laurent Thiery. Darin enthalten sind die Biografien aller Franzosen, die in das KZ Mittelbau-Dora bei Nordhausen deportiert wurden. Der französische Autor bestätigte, dass Maurice Cordier, Auguste Barray und André Gagnaux auf dem Friedhof Seesen-Münchehof bestattet wurden. In seinem Buch gibt es Berichte von Augenzeugen über die Beerdigung. Das Buch ist bisher nur auf Französisch erschienen. Laurent Thiery hat dafür jeweils bis zum Tod der Deportierten recherchiert. Genau an diesem Punkt begann erst die Recherche von Thomas Droste und seiner Projektgruppe. Sie wussten, dass es in Seesen den Gedenkstein zur Erinnerung an die 23 Toten aus dem Räumungstransport gibt. Erst durch die Verbindung von Buch und Gedenkort ist es gelungen, drei der 23 Toten zu identifizieren. Dieses Puzzle hatte in den letzten 75 Jahren niemand so zusammengesetzt.

Weitere Informationen
Ein Bild aus dem Instagram Account von Ella Imgart. Sepiabild von einer Treppe am Soldatengrab in Steinbeck. © NDR Foto: Ella Imgart

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Film als Brücke zwischen Gedenkstein und Gedenkstätten

An der Oberschule Seesen gibt seit 2015 das Gedenkstättenprojekt, bei dem sich die Schülerinnen und Schüler auf unterschiedliche Art und Weise mit verschiedenen Gedenkstätten auseinandersetzen - so auch mit dem Gedenkstein auf dem Friedhof Seesen-Münchehof. Mit einem Film über diesen Gedenkstein beteiligte sich die Projektgruppe an der niedersächsischen Initiative "75 Jahre Demokratie in Niedersachsen - Alles klar?!". Durch den Film wollten die Schülerinnen und Schüler eine Brücke zwischen dem Gedenkstein und den Gedenkstätten in Bergen-Belsen, Moringen und Mittelbau-Dora schlagen und hervorheben, wie wichtig solche Gedenkorte vor Ort sind. "Eigentlich müssten alle Infos an den Orten der Taten sein. Das ist aber nicht so", erzählt Thomas Droste, der Geschichtslehrer, der die Schülerinnen und Schüler im Projekt betreut.

Tod im Zug nach Münchehof

Letztendlich war es die Recherche für die Vorbereitung auf den Film, die neue Erkenntnisse über einige der Toten im Massengrab lieferte. Neben Maurice Cordier konnten auch Auguste Barray und André Gagneux identifiziert werden. Laut Augenzeugenberichten aus dem Buch von Laurent Thiery wurde Gagneux das letzte Mal im Zug nach Münchehof gesehen. Ein Augenzeuge belegt den Tod von Auguste Barray in dem Zug.

77 Jahre nach der Befreiung durch die Amerikaner

Nachdem die KZ-Häftlinge in Münchehof ankamen, wurden sie von Anwohnern im örtlichen Reichsarbeitsdienstlager untergebracht. Das stand zu diesem Zeitpunkt leer. Einen Tag später, am 10. April 1945, befreiten die Alliierten die etwa 400 Überlebenden. 77 Jahre später veranstaltete die Oberschule Seesen auf dem Friedhof Seesen-Münchehof nun eine Gedenkfeier. Für die drei identifizierten Toten wurden erstmalig Grabmale aus Holz aufgestellt. Darauf abgebildet ist auch die französische Flagge mit dem Lothringer Kreuz - dem Symbol der Résistance. Francois Lachaud, der Enkel von Auguste Barray, und Patrice Cordier, der Sohn von Maurice Cordier, wollten zur Gedenkfeier aus Frankreich anreisen.

"Eine Art Auferstehung"

Für Patrice Cordier ist es nicht nur der erste Besuch am Grab seines Vaters. Nach Jahrzehnten erhält sein Vater überhaupt erst ein Grabmal. "Ein Grab mit seinem Namen darauf zu haben, ist eine Art Auferstehung. Ein Grab ist wie eine Tür ins Jenseits. Es erlaubt mir zu trauern." Auch der französische Autor Laurent Thiery war vor Ort. Patrice Cordier hofft, durch ihn noch mehr über die Geschichte seines Vaters zu erfahren.

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Dieses Thema im Programm:

Hallo Niedersachsen | 10.04.2022 | 19:30 Uhr

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