Ein Schild weist auf einer Kriegsgräberstätte auf Wangerooge hin. © NDR

Der Luftangriff auf Wangerooge - ein Zeitzeuge erinnert sich

Stand: 08.05.2023 09:49 Uhr

Am 25. April 1945 - 13 Tage vor Kriegsende - warfen alliierte Bomber mehr als 6.000 Bomben auf Wangerooge ab. 311 Menschen - Soldaten, Einwohner, Zwangsarbeiter - starben. Ein Zeitzeuge erinnert sich.

von Elske Beermann

Am 8. Mai 1945 endete der Zweite Weltkrieg. Nur wenige Tage zuvor wurde die ostfriesische Insel Wangerooge von einem Bombenangriff schwer getroffen. Zuvor war die Insel von den nationalsozialistischen Machthabern zur "Festung" erklärt worden. Der vielleicht letzte Zeitzeuge dieses Angriffs ist Friedrich Wilhelm Petrus. Der 86-jährige Wangerooger möchte nicht, dass die Geschichte dieser Katastrophe in Vergessenheit gerät. So informiert er Touristen auf speziellen Führungen über die letzten Kriegstage auf der Insel. Dem NDR in Niedersachsen hat er erzählt, wie er die Geschehnisse am 25. April 1945 und die Zeit danach persönlich in Erinnerung behalten hat. Damals - es ist ein Mittwoch gegen 17 Uhr - erreichen 482 britische, kanadische und französische Bomber die kleine Insel. Friedrich Wilhelm Petrus spielt zu der Zeit mit seinen Freunden am Wasser:

Ein komisches Surren

Freidrich Wilhelm Petrus aus Wangerooge schaut sich alte Fotos mit seiner Nachbarin an. © NDR
311 Menschen kamen am 25. April 1945 auf Wangerooge ums Leben.

"Es war ein wunderschöner Tag, die Sonne schien, es war warm. Dann haben wir so ein komisches Surren gehört, es wurde immer stärker, dann hat einer von uns hoch geguckt, und dann wussten wir sofort, was die Stunde geschlagen hat. Wir haben alles stehen und liegen lassen und sind sofort losgelaufen. Jeder planlos.

Ein Soldat zog Petrus in den Keller

Wir konnten vor den Flugzeugen nicht weglaufen. Das erste, was ich gesehen habe, waren zwei Tote. Und ein toter Hund. Dann ist hinter mir ein Haus in die Luft geflogen. Dann noch eines. Und noch eines. Das Letzte, was hinter mir gepoltert hat, das waren die Dachpfannen vom Haus Clemens. Dann zog mich ein Soldat in den Keller. Dann war ich in Sicherheit.

Beißender Pulverdampf über der Insel

Alle meine Freunde sind heil nach Hause gekommen. Als wir aus dem Keller rausgekommen sind, lag über der ganzen Insel ein Nebel. Beißender Pulverdampf, der die Augen hat tränen lassen, man konnte kaum atmen. Alle kamen aus ihren Löchern und guckten - was war das denn nun überhaupt?

Die Kanadier kommen

Freidrich Wilhelm Petrus aus Wangerooge sitzt an einem Tisch. © NDR
Friedrich Wilhelm Petrus will nicht, dass das Schreckliche dieses Tages in Vergessenheit gerät.

Dann überschlugen sich die Ereignisse. Die Besatzungskräfte kamen, das waren hier die Kanadier. Einer klingelte bei uns und fragte nach meinem Vater. Er wurde verhaftet, er gehörte damals zur Führungsriege. Zwei Jahre lang haben wir nichts von ihm gehört und wussten nicht, wo er ist. Dann stand er plötzlich wieder vor der Tür. Die Zeit dazwischen war hart.

311 Menschen sind gestorben

Die Überlebenden fanden eine Menge Tote vor. Sie haben sie überall beerdigt, wo sie sie gefunden haben. Es gab also eine Menge Dünengräber. 311 Menschen sind gestorben. Ein einziger ist bis heute nicht gefunden worden. 1951 kam die Kriegsgräberfürsorge, hat alle wieder ausgegraben und sie in einem Rondell wieder unter die Erde gebracht. Das ist heute der Ehrenfriedhof.

Die Kaserne wurde nicht getroffen

Die Insulaner hatten zum Trauern keine Zeit, sie mussten ihre Sachen halbwegs in Ordnung bringen. Sie gingen mit Handwagen in die Dünen, da stand die Friedrich-August-Kaserne - wie durch ein Wunder nicht von Bomben getroffen. Sie brachen die Kaserne auseinander. Es gab hier alles: komplette Fenster mit Rahmen, Toiletten, Waschbecken. Viele alte Wangerooger Häuser sind mit Steinen aus dieser Kaserne gebaut.

Der Hund sorgt für den Sonntagsbraten

Wir hatten nichts. Aber wir waren erfinderisch. Ich fragte meine Mutter: Darf ich einen Hund haben? Der Nachbarshund hatte Welpen bekommen. Ich durfte. Ich nannte ihn "Nixe". Irgendwann haben wir den Hund laufen lassen. Wangerooge war damals voller Hasen. Wir waren baff, wie schnell Nixe laufen konnte. Irgendwann kam er zurück und hatte einen Hasen gerissen. Das war das Zeichen, dass wir ab jetzt jeden Sonntag einen Sonntagsbraten hatten.

Mit Handgranaten fischen

Wir waren ja kleine Sprökse. Wir haben versucht, mit Handgranaten zu fischen. Es war ja alles voller Munition auf der Insel. Wir sind zu der Aalkuhle gegangen, da haben wir dann abgezogene Handgranaten reingeworfen. Dann hat es fürchterlich geknallt, und dann hatten wir Fisch ohne Ende. Wir haben die ganze Nachbarschaft mit Fisch versorgt.

Einweckgläser aus Glasminen

Wir hatten ja keine Einweckgläser mehr, dann hatten wir eine Idee: Auf dem Flugplatz lagen Glasminen, stapelweise, man brauchte bloß den Deckel abmachen und die Glasmine vorsichtig rausschütten. Dafür hatten wir extra eine Vorrichtung gebaut, und dann hatte man ein Einweckglas.

Kinder dachten damals nicht darüber nach

Ich glaube, Kinder können Schreckliches sehr gut verdrängen. Für uns war das damals normal. Wenn wir in einem abgestürzten Flugzeug einen Toten sahen, dann war das so - und wir sind weitergezogen. Wir dachten damals nicht darüber nach, dass dieser Mensch irgendwo vermisst werden, eine Familie haben könnte."

Weitere Informationen
Ein Einsatzfahrzeug steht in einem abgesperrten Bereich auf Wangerooge. © NDR

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Dieses Thema im Programm:

Hallo Niedersachsen | 07.05.2023 | 19:30 Uhr

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