Kommentar zur Corona-Lage: Aufschiebe-Taktik gefährlich für uns alle
Das Pandemie-Management in Deutschland gibt derzeit ein uneinheitliches Bild ab. Was ist in der angespannten Lage zu tun? Sollen die Impfzentren wieder öffnen, oder werden es die Hausärzte schon richten?
Von Korinna Hennig, NDR Info
Es gab eine Phase in der Pandemie, irgendwann nach der ersten Welle, da blickte die Welt voller Anerkennung auf Deutschland. Selbst auf einer Konferenz der Organisation "Ärzte ohne Grenzen" hieß es: Wie habt ihr es geschafft, so gut dazustehen? Doch diese Zeit ist lange vorbei.
Was jetzt passiert, kann einen schon sehr verzweifelt machen. Denn wer die Inzidenzkurven aus dem vergangenen und diesem Herbst aufeinanderlegt, bekommt unmittelbar den Eindruck: Die Geschichte wiederholt sich. Die Krankenhauseinweisungen sind mitnichten entkoppelt, sondern folgen dem Anstieg der Inzidenzen. Klar, wir haben Impfstoffe, die die allermeisten immer noch vor schweren Verläufen schützen. Doch es sind immer noch fast ein Drittel der Menschen in Deutschland ungeimpft - davon allein dreieinhalb Millionen über 60-Jährige. Vor allem sie sind es, die auf den Intensivstationen landen - und so lange ist die Notlage eben noch nicht vorbei.
Beispiel Israel: Auffrischimpfungen dämpfen vierte Welle
Dabei liegt längst auf dem Tisch, was nun zu tun wäre, und da geht es beileibe nicht allein um Impfverweigerer. Denn die Forschung weiß jetzt, dass mit der mutierten Delta-Variante auch Geimpfte das Virus häufiger weitergeben als erhofft. Damit ist klar: Wenn zügig Auffrischimpfungen verteilt werden, dann kann das die vierte Welle wahrscheinlich dämpfen - das zeigen unter anderem Daten aus Israel. Wer eine dritte Impfung bekommt, schützt nicht nur sich selbst, sondern kann sich vermutlich zumindest für die nächsten zwei bis drei Monate nicht unbemerkt anstecken und dann ohne Abstand und Maske andere gefährden. Das wirkt auch auf die Dynamik der Pandemie.
Die Hausärzte werden's schon richten
Doch statt dafür jetzt eine pragmatisch und schnell funktionierende Infrastruktur aufzubauen, rührt die Politik zwar fröhlich die Booster-Werbetrommel, scheint aber gleichzeitig zu meinen: Die Hausärzte werden's schon richten. Viele von denen aber haben ein extrem anstrengendes Jahr hinter sich und gehen längst auch am Stock. Außerdem werden sie über den Winter mit der Grippe und anderen Atemwegs-Viren wie RSV schon genug zu tun haben. Mit der Folge, dass manche Praxen wegen der aufwendigen Dokumentation nur noch Boosterimpfungen machen und gar keine Erstimpfungen mehr. Das bremst den Kampf gegen das Virus an anderer Stelle aus: Wer sich nach langem Zweifeln nun doch zur Impfung entschließt, muss womöglich erst von einer Praxis zur andern tingeln oder steht drei Stunden in der Warteschlange einer mobilen Impfeinrichtung. Und das soll Zögernde zur Corona-Impfung ermutigen?
Erst gut zwei Millionen Booster-Impfungen
Es bräuchte also tatsächlich wieder Impfzentren, kombiniert mit einer wirklich überzeugenden und zielgruppenspezifischen Aufklärungskampagne. Damit könnten sich auch all die jungen Menschen angesprochen fühlen, die noch ungeimpft sind, aber gar keinen Hausarzt haben. Und man müsste auch nicht den etwas willkürlich eingezogenen Abstand von sechs Monaten nach Zweitimpfung einhalten und damit die Gefahr eingehen, dass sich der 81-Jährige kurz vor Ablauf dieser Frist infiziert, weil der Schutz einfach schon zu stark nachgelassen hat. Bis jetzt sind laut Robert Koch-Institut tatsächlich erst gut zwei Millionen Booster-Impfungen in Deutschland verabreicht worden!
Doch anstatt diese Dinge jetzt zügig und pragmatisch wieder in die Hand zu nehmen, lässt die Politik Impf-Hotlines auf regionaler Ebene auslaufen oder konzentriert sich darauf, die Maskenpflicht in den Schulen abzuschaffen und über ein Ende der epidemischen Notlage zu fachsimpeln. Erstmal Fenster aufmachen, wenn das Haus brennt.
Politik leidet an pathologischer Arbeitsstörung
Die Verhaltenspsychologie kennt für das, was in der Politik gerade passiert, einen Fachbegriff: Prokrastination. Das ist der Ausdruck für eine handfeste pathologische Arbeitsstörung, die man alltagssprachlich am besten mit der "dauerhaften Neigung zu extremem Aufschieben" von Aufgaben übersetzen kann - und zwar so, dass ein Ergebnis nicht oder nur unter allerhöchstem Druck zustande kommt. Nur dass in diesem Fall der Druck nicht bei denen landet, die ihre Aufgaben wieder und wieder aufschieben, sondern bei denen, deren Impfung wegen Vorerkrankungen nicht gut funktioniert, bei Pflegekräften und Ärztinnen - und am Ende bei uns allen, falls wir einen Unfall haben oder eine Operation brauchen und dann kein Platz im Krankenhaus für uns ist.
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