Wladimir Putin, umringt von mehreren Armee-Angehörigen, bei einer Kranzniederlegung im Rahmen des Gedenktags zum Ende des Zweiten Weltkriegs. © Pool Sputnik Kremlin/AP/dpa Foto: Anton Novoderezhkin

Kommentar zum Ukraine-Krieg: Im Dilemma den Überblick behalten

Stand: 21.05.2022 14:15 Uhr

Was ist richtig und was falsch im Umgang mit dem Ukraine-Krieg? Auf diese Frage gibt es keine sichere Antwort. Wir müssen deshalb lernen, mit Angst und Ungewissheit umzugehen.

Die Meinung von Ulrich Schönborn, Chefredakteur der "Nordwest-Zeitung" (NWZ)

In der politischen und gesellschaftlichen Diskussion um den Ukraine-Krieg offenbart sich ein dramatisches Dilemma: Man kann nichts richtig machen.

Will man das akute Leiden und Sterben in dem überfallenen Land beenden, ginge das nur mit Zugeständnissen an den Aggressor Russland. Zugeständnisse an den Aggressor Russland bergen, neben dem indiskutablen und inakzeptablen Eingriff in die ukrainische Souveränität, allerdings unkalkulierbare Risiken für weitere Staaten im russischen Fokus - vor allem für die bündnisfreien ehemaligen Sowjetrepubliken Moldau und Georgien.

Putin setzt auf die gewaltsame Durchsetzung seiner Ziele

Ulrich Schönborn Chefredakteur Nordwest-Zeitung © Nordwest-Zeitung Foto: Johannes Bichmann
Für NWZ-Chefredakteur Ulrich Schönborn ist eine offene Kommunikation wichtig.

Zugeständnisse bergen zudem ein Eskalationsrisiko, das die gesamte NATO betrifft. Russische Begehrlichkeiten in Richtung Polen und der baltischen Staaten, alles NATO-Mitglieder und Anrainer der russischen Enklave Kaliningrad, werden in den russischen Staatsmedien offen propagiert. Und seit der Invasion in die Ukraine weiß man: Putin ist imperiale Geopolitik wichtiger als rationale Risikoabwägung. Er setzt auf die gewaltsame Durchsetzung seiner Ziele.

Derzeit kann er offenbar nur militärisch und nicht diplomatisch gestoppt werden - wo wir wieder bei der Verlängerung von Leiden und Sterben in der Ukraine sind. Militärische Hilfe für die Ukraine geht zudem nur mit Waffenlieferungen aus Nato-Staaten - was ebenfalls die latente Gefahr einer Eskalation des Krieges weit über die Ukraine hinaus vergrößert. Das ist und bleibt wohl noch für Monate ein Ritt auf der Rasierklinge.

Auf Aktionismus zu setzen, ist keine gute Strategie

Bei diesem Ritt auf Aktionismus zu setzen, ist indes keine gute Strategie. Dass Bundeskanzler Olaf Scholz bei der Zusage für die Lieferung schwerer Waffen an die Ukraine auch unter höchstem öffentlichen Druck zögerte, kostete ihn mehr Konsequenz und Standhaftigkeit als die markige Entschlossenheit von Friedrich Merz. Während Scholz seiner Verantwortung in dem eingangs beschriebenen Dilemma gerecht wurde, nutzte Merz das Thema hemmungslos für wahl- und parteitaktische Manöver aus. Wenn wir auf einem Pulverfass sitzen, ist mir ein besonnener Kanzler lieber als ein Publicity-Talent auf der Oppositionsbank.

Gesellschaftlicher Diskurs treibt bei uns wieder seltsame Blüten

Wie schon zu Corona-Zeiten treibt unterdessen auch der gesellschaftliche Diskurs bei uns wieder seltsame Blüten. Nur ein Beispiel ist der von Künstlern und Intellektuellen unterzeichnete Brief von Alice Schwarzer an Olaf Scholz, in dem sie für eine Deeskalation warb und dabei zuweilen Ursachen und Wirkung problematisch verdrehte. Darüber muss man diskutieren. Vor allem auf Twitter und Co. brach aber gleich ein formidabler Shitstorm los. Das erinnerte fatal an die Berufsverbots-Rufe vor gut einem Jahr, nachdem sich namhafte Musiker und Schauspieler unter dem Motto #allesdichtmachen gegen den Corona-Lockdown gewehrt hatten.

In dieses Bild unreflektierter Empörung passt auch die reflexhafte Ächtung russischer Kunst und Kultur, die wir derzeit erleben - als ob eine Verbannung von Tolstoi, Tschechow und Tschaikowsky aus Bibliotheken, Theatern und Konzertsälen der geschundenen Ukraine irgendwie helfen würde.

Der Ukraine-Krieg ist in seiner ganzen Brutalität real, Verlauf und Ausgang sind offen. Die Illusion eines friedlichen Zusammenlebens unabhängiger Länder in Europa und die Hoffnung auf Frieden durch wirtschaftliche Bindungen sind jäh geplatzt. Wir sehen Gewalt, Zerstörung und Tod in unmittelbarer Nähe und müssen lernen, mit Kontrollverlust, Angst und Ungewissheit umzugehen.

Wichtig ist auch eine offene Kommunikation

Was also tun, wenn man nichts richtig machen kann? Wichtig ist, im Dilemma zwischen Kriegsleid und Aggressor-Abwehr den Überblick zu behalten. Neben der Frage, wie die Ukraine den Krieg gewinnen kann, darf die Frage, wie der Krieg beendet werden kann, nicht in Vergessenheit geraten.

Wichtig ist auch eine offene Kommunikation: Wenn man keine Gewissheiten mehr liefern könne, müsse man es mit Ehrlichkeit probieren und Entscheidungen nicht verkünden, sondern die Bürgerinnen und Bürger an Entscheidungsprozessen teilhaben lassen, betonte mein Kollege Lars Haider jüngst in dieser Kommentar-Reihe. Diese Offenheit setzt aber auch die Bereitschaft voraus, Abwägung nicht sofort als Schwäche abzukanzeln.

Anmerkung der Redaktion: Liebe Leserin, lieber Leser, die Trennung von Meinung und Information ist uns besonders wichtig. Meinungsbeiträge wie dieser Kommentar geben die persönliche Sicht der Autorin/des Autors wieder. Kommentare können und sollen eine klare Position beziehen. Sie können Zustimmung oder Widerspruch auslösen und auf diese Weise zur Diskussion anregen. Damit unterscheiden sich Kommentare bewusst von Berichten, die über einen Sachverhalt informieren und unterschiedliche Blickwinkel möglichst ausgewogen darstellen sollen.

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NDR Info | Kommentar | 22.05.2022 | 09:25 Uhr