Zwei Männer tragen während der Aufräumarbeiten nach einem Raketenangriff in Kiew eine Leiter an einem zerstörten Haus vorbei. ©  -/Ukrinform/dpa

Kommentar zum Krieg in der Ukraine: Angst ist kein guter Ratgeber

Stand: 27.03.2022 06:00 Uhr

Der Krieg in der Ukraine geht in die fünfte Woche - und von Anfang an war klar: Russlands Attacke zielt wohl nicht nur auf den südlichen Nachbarn.

Ein Kommentar von Lars Haider, Chefredakteur vom "Hamburger Abendblatt"

Lars Haider, Chefredakteur des "Hamburger Abendblattes"
Man müsse Russland viel stärker im Unklaren lassen, meint Lars Haider.

Wladimir Putins größte Waffen sind nicht die Atombomben, über die sein Land verfügt, es ist die Angst, die wir im Westen davor haben. Wenn in diesen Tagen Vertraute des russischen Präsidenten über "nukleare Optionen sprechen" oder vor nicht vorhersehbaren Folgen warnen, wenn die Sanktionen gegen Russland zu groß würden, dann müssen wir wissen: Diese Drohungen sind ein wesentlicher Teil von Putins Strategie, es gehört zu seinem perfiden Spiel, den Menschen in Europa, der EU und der NATO Angst machen zu wollen. Gelingt ihm das, erreicht er mit seinen diffusen Äußerungen unsere Köpfe und Gefühle, dann hat er schon gewonnen. Angst ist niemals ein guter Ratgeber, in Kriegszeiten erst recht nicht. Sie verhindert, dass man das macht, was nötig ist, und sie verstellt den Blick auf die Wirklichkeit.

Und diese Wirklichkeit ist, dass der Einsatz nuklearer Waffen von russischer Seite extrem unwahrscheinlich ist. Erstens, weil Putin dann mit entsprechenden Gegenmaßnahmen der NATO rechnen müsste und damit das verlieren würde, was ihm über alles geht - seine Macht, seinen Einfluss, vielleicht sogar sein Leben. Zweitens, weil er damit den letzten, großen Verbündeten gegen sich aufbringen würde: China hat nicht nur grundsätzlich ein anderes Verständnis über die strategische Rolle von Nuklearwaffen, es ist auch aus eigenem, wirtschaftlichen Kalkül stark daran interessiert, dass der Krieg in Europa nicht weiter eskaliert, sondern möglichst schnell endet. Und drittens verlöre Putin beim Einsatz von nuklearen, biologischen oder chemischen Waffen sein vielleicht wichtigstes Instrument im Krieg gegen den Westen und dessen Werte: Er hätte nichts mehr, mit dem er für Angst sorgen könnte, seine Abschreckungsstrategie wäre an ihrem Ende angekommen - mit Folgen, die man sich natürlich nicht für die Welt, die Putin sich aber für seine Zukunft ausmalen wird.

All das muss man wissen, wenn man darüber nachdenkt, wie sich Deutschland, die EU und die NATO in den nächsten Wochen verhalten sollen. Im Moment richten die Europäer und ihre Verbündeten ihr Handeln sehr stark an möglichen Reaktionen Putins aus. Motto: Wir dürfen nichts unternehmen, was ihn zusätzlich provozieren könnte, wir müssen bei allen unseren Maßnahmen einpreisen, wie er darauf reagiert. Das führt zu schwer erträglichen Bildern, etwa, wenn die NATO ihre sogenannte Ostflanke massiv stärkt und damit die Grenze zu Ländern wie Polen sichert, jenseits dieser Grenze aber unschuldige Männer, Frauen und Kinder in einem wahnsinnigen Krieg sterben. Und es führt zu Aussagen zum Beispiel von Bundeskanzler Olaf Scholz, der nicht müde wird zu betonen, dass die NATO sich an dem Krieg in und um die Ukraine nicht beteiligen wird.

Muss er das, müssen das andere NATO-Partner immer so deutlich sagen? Oder wäre es, wenn man sich die beschriebene Strategie Putins betrachtet, nicht besser, Russland viel stärker im Unklaren über mögliche Reaktionen des Westens zu lassen, über das, was die Alliierten machen und eventuell noch machen werden? Politikerinnen und Politiker aus Osteuropa betonen immer wieder, dass Putin nicht mit Diplomatie, sondern mit Härte und Konsequenz zu beeindrucken sei, nur diese Sprache würde er verstehen. Das stimmt sicherlich, aber mindestens genauso wichtig wäre es, den Präsidenten, den viele als paranoid beschreiben und der offensichtlich große Sorgen hat, sich mit dem Coronavirus anzustecken, mit seinen eigenen Waffen zu schlagen. Putin muss selbst Angst vor dem Westen bekommen, EU und NATO müssen für ihn genauso unberechenbar werden wie er für sie. Erst dann wäre ein Gleichgewicht in dieser schrecklichen Situation wiederhergestellt.

Es geht darum, Putin zu zeigen, dass er den vermeintlich dekadenten, verweichlichten Westen falsch eingeschätzt hat. Das ist den Europäern und der NATO zum Teil bereits gelungen, weil sie so entschlossen und geeint auf den russischen Angriff in der Ukraine reagiert haben. Und es muss weitergehen, in dem man Putin deutlich vor Augen führt, dass man die eigenen Entscheidungen nicht von seinen Reaktionen, sondern davon abhängig macht, was wichtig und was nötig ist. Und dass man sein Spiel, dieses irre Spiel mit der Drohung von Massenvernichtungswaffen, durchschaut hat. Wenn wir Putin zeigen, dass wir keine Angst mehr vor ihm haben, dass wir strategisch und nicht voller Furcht agieren - dann hat er wirklich ein Problem.

Anmerkung der Redaktion: Liebe Leserin, lieber Leser, die Trennung von Meinung und Information ist uns besonders wichtig. Meinungsbeiträge wie dieser Kommentar geben die persönliche Sicht der Autorin/des Autors wieder. Kommentare können und sollen eine klare Position beziehen. Sie können Zustimmung oder Widerspruch auslösen und auf diese Weise zur Diskussion anregen. Damit unterscheiden sich Kommentare bewusst von Berichten, die über einen Sachverhalt informieren und unterschiedliche Blickwinkel möglichst ausgewogen darstellen sollen.

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NDR Info | Kommentar | 27.03.2022 | 09:25 Uhr