Neun-Euro-Ticket vor einer U-Bahn in Hamburg, © picture alliance

Kommentar zum 9-Euro-Ticket: Bessere Ideen für die Verkehrswende nötig

Stand: 23.07.2022 06:00 Uhr

Das 9-Euro-Ticket ist ein voller Erfolg und es stellt sich die Frage, was darauf folgen soll. Wenn es nicht nur um Entlastung, sondern auch um eine Verkehrswende gehen soll, dann müsse mehr passieren, meint der freie Autor Stephan Richter.

Ein Kommentar von Stephan Richter, freier Autor

Noch gut einen Monat, dann ist das 9-Euro-Ticket Geschichte. Die gute Nachricht: Die Insel Sylt ist bislang nicht von Bahn-Touristen verwüstet worden. Chaos ist in übervollen Zügen auch noch nicht ausgebrochen, wie es zu Beginn des dreimonatigen Experiments befürchtet worden war. Stattdessen ist die große Mehrheit der Deutschen mit dem am 31. August endenden Discount-Angebot zufrieden. So jedenfalls belegen es Zahlen des Verbandes Deutscher Verkehrsunternehmen.

Und doch ist das 9-Euro-Ticket nicht so revolutionär wie beim Start verkündet wurde. Bundesverkehrsminister Volker Wissing (FDP) lobte sich zwar überschwänglich selbst und nannte das Ticket "die beste Idee für den Bahnverkehr seit ganz langer Zeit". Tatsächlich aber lässt sich in jedem Supermarkt studieren, wie Kunden mit Sonderangeboten in die Läden gelockt werden! Da bräuchte es schon bessere Ideen für einen tiefgreifenden Einstieg in die propagierte Verkehrswende.

Gibt es Schnäppchen, sind die Deutschen dabei

Schon bevor der Feldversuch sorgfältig ausgewertet wird, gibt es vor allem eine Erkenntnis: Wenn Schnäppchen angeboten werden, sind die Deutschen dabei. Fast jeder zweite erwachsene Bürger, so die Verkehrsunternehmen, hat bei der Aktion zugegriffen.

Stephan Richter, freier Autor, ehemals Chefredaktion Schleswig-Holsteinischer Zeitungsverlag sh:z. © sh:z Foto: Marcus Dewanger
Stephan Richter meint, dass es vor allem auf ein gutes Angebot im ÖPNV ankommt.

Mit dem 9-Euro-Ticket wollte die Bundesregierung parallel zum Tankrabatt Haushalten helfen, besser mit der Inflation fertig zu werden. Doch wer hat die günstige Monatskarte wirklich als finanzielle Entlastung empfunden? Für zahlreiche Pendler, die unter den hohen Spritpreisen leiden, bringt der Feldversuch wegen der Urlaubszeit wenig. Jetzt herrscht Sommer. Viele nutzen den öffentlichen Nahverkehr und die Regionalzüge zum Discountpreis gerade deshalb, um Ausflüge ins Umland zu unternehmen oder in den Städten die in Corona-Zeiten immer leerer gewordenen Busse sowie S- und U-Bahnen zu entern. Schön und gut, aber eine Verkehrswende ist das noch nicht.  

Begehrlichkeiten vor allem in Ballungsgebieten ausgelöst

Dass sich das 9-Euro-Ticket nach drei Monaten nicht sang- und klanglos einsammeln lässt, hätte der Bundesregierung klar sein müssen. Da kann Kanzler Olaf Scholz (SPD) noch so oft wiederholen, dass es keine Verlängerung in der jetzigen Form geben wird. Auch der Hinweis von Verkehrsminister Wissing, dass nun die Länder am Zuge seien, weil der öffentliche Nahverkehr in deren Zuständigkeitsbereich falle, zieht nicht. Begehrlichkeiten sind vor allem in den Ballungsgebieten mit gut ausgebautem Nahverkehr und Regionalzug-Verbindungen geweckt worden. Hier wird es brodeln, wenn Busse und Bahnen im Herbst angesichts steigender Kosten ihre Preise erhöhen und es keine Anschlussregelung für das 9-Euro-Ticket geben sollte.

Landbewohnern hat das 9-Euro-Ticket nicht viel gebracht

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Landbewohner schauen vielerorts ohnehin in die Röhre. Was nutzen ihnen Rabattaktionen, wenn keine Busse fahren und viele regionale Bahnverbindungen stillgelegt worden sind? Mehr noch: Geld, das dringend für die Sanierung und den Ausbau der Netzinfrastruktur benötigt wird, geht bereits für die jetzige Rabattaktion drauf. Das 9-Euro-Ticket für drei Monate kostet die Steuerzahler satte 2,5 Milliarden Euro. Dabei wird es nicht bleiben.

Als Nachfolgeregelung ist nun von einem Monatsticket für 29 oder für 69 Euro die Rede - oder von einem Jahresticket für 365 Euro. Vor allem Menschen mit niedrigen Einkommen werden sich aus Kostengründen wieder abwenden. Von der Subvention profitieren spätestens dann vor allem diejenigen, die auch ohne staatliche Hilfe auskämen. Und die bei einem möglichen Umstieg vom Auto auf die Bahn nicht nur aufs Geld schauen.

ÖPNV-Nutzung nicht nur vom Preis abhängig - sondern vom Angebot

Vieles spricht dafür, dass eine stärkere Nutzung des öffentlichen Nahverkehrs und der Bahn nicht allein vom Preis abhängig ist, sondern auch vom Angebot. Angefangen bei den Pendlern. Um zur Arbeit zu kommen, bleiben viele auf das Auto angewiesen, weil die passenden Verbindungen fehlen.

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Wenn FDP-Chef Christian Lindner jetzt zudem eine Erhöhung der Pendlerpauschale ins Gespräch bringt, rückt die Verkehrswende endgültig in den Hintergrund. Schon ab dem ersten Kilometer sollen Pendler stärker entlastet werden, schlägt Lindner vor. Nein, so werden keine Anreize geschaffen, das Auto stehen zu lassen und für kürzere Strecken das Fahrrad oder den öffentlichen Nahverkehr zu nutzen.

Ein bundesweit gültiges Ticket gegen den Tarifdschungel

Etwas Gutes hat das 9-Euro-Ticket dennoch. Es gilt bundesweit und hebt sich damit wohltuend von den unzähligen Tarifzonen und Tarifsystemen im öffentlichen Nahverkehr ab. Im Herbst soll auf einer Verkehrsministerkonferenz über neue Strukturen beraten werden. Wenn es zu einem bundesweit gültigen ÖPNV-Ticket käme, wäre das tatsächlich eine kleine Revolution. Doch war wirklich erst ein Feldversuch nötig, um zu der Erkenntnis zu gelangen, dass der Tarifdschungel abgebaut werden muss?  

Anmerkung der Redaktion: Liebe Leserin, lieber Leser, die Trennung von Meinung und Information ist uns besonders wichtig. Meinungsbeiträge wie dieser Kommentar geben die persönliche Sicht der Autorin / des Autors wieder. Kommentare können und sollen eine klare Position beziehen. Sie können Zustimmung oder Widerspruch auslösen und auf diese Weise zur Diskussion anregen. Damit unterscheiden sich Kommentare bewusst von Berichten, die über einen Sachverhalt informieren und unterschiedliche Blickwinkel möglichst ausgewogen darstellen sollen.

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NDR Info | Kommentar | 24.07.2022 | 09:25 Uhr