Stand: 31.10.2021 06:00 Uhr

Kommentar: Zeit für das Ende des Alarmismus

In wenigen Wochen soll die von Corona ausgelöste pandemische Notlage enden. Darüber wird derzeit heftig diskutiert, vor allem über ein mögliches Ende vieler Vorsichtsmaßnahmen.

NDR Info Wochenkommentar von Heribert Prantl, Autor und Kolumnist der "Süddeutschen Zeitung"

Der Journalist Heribert Prantl © Jürgen Bauer Foto: Jürgen Bauer
Wir nähern uns der virologischen Übergangszeit, meint SZ"-Autor Heribert Prantl.

Man darf eigentlich nicht erleichtert sein, weil ja die Infektionszahlen erneut steigen. Aber ich bin trotzdem ein wenig erleichtert, dass die "epidemische Notlage" aufgehoben wird. Das heißt nicht, dass die Pandemie vorbei ist. Das bedeutet lediglich, dass die Lage nicht mehr als katastrophal bezeichnet werden kann, nachdem vier von fünf erwachsenen Deutschen geimpft sind.

Ich bin ein wenig erleichtert. Ich hatte befürchtet, dass aus der Feststellung der "epidemischen Notlage von nationaler Tragweite" eine Dauereinrichtung wird. Im März 2020 ist diese Notlage erstmals ausgerufen und dann immer wieder verlängert worden, zuletzt Ende August 2021. Ohne Verlängerung endet jetzt die per Gesetz festgestellte Notlage am 24. November.

Nach 19 Monaten Pandemie, nach 19 Monaten mit grundrechtserschütternden Ausnahmeregelungen, muss die Zeit der Selbstverantwortung des Einzelnen wieder beginnen. Gewiss: Die Zahl der Inzidenzen steigt gerade erneut. Aber: Eine massive Gesundheitsgefahr für Geimpfte besteht nicht. Sogenannte Impfdurchbrüche sind unangenehm, aber nicht gefährlich. Das Virus bedroht vor allem die Ungeimpften. Eine systemische Gefahr für das öffentliche Gesundheitswesen besteht nicht. Das ist die Lage.

Wie lange dauert die Übergangszeit?

Deswegen bin ich ein wenig erleichtert, sagte ich. Richtig erleichtert bin ich noch nicht. Erstens, weil das Virus ja noch nicht verschwunden ist. Zweitens, weil ich die Befürchtung habe, dass die Notstandsregeln doch bleiben, solange das Virus nicht ganz verschwunden ist. Die künftige Regierungskoalition hat beschlossen, eine Reihe von Notregeln für eine Übergangszeit aufrecht zu erhalten. Wie lange dauert die Übergangszeit, welche Regeln werden aufrecht erhalten? Wenn die Notstandsregeln solange bleiben, bis es das Virus nicht mehr gibt, werden die Notstandsregeln nie mehr verschwinden. Es ist eine Illusion, Krankheit und Schmerzen und Viren völlig entkommen zu können. Es geht darum, Krankheit und Virus ins Leben zu integrieren, ins persönliche und ins gesellschaftliche Leben.

Es dürfen aber nicht Notstandsregeln, auch nicht Dauermasken-Pflichten und schon gar nicht 2G-Regeln per Gesetz ins persönliche und gesellschaftliche Leben integriert werden. So ein neues Normal wäre fatal, das wäre gesellschaftsschädlich, das wäre demokratieschädlich. 

Wir nähern uns jetzt also der virologischen Übergangszeit. In dieser Übergangszeit wird, so wie es aussieht, ein Teil der Regelungen, die jetzt noch an die Notlage von nationalem Ausmaß geknüpft sind, bestehen bleiben. Die besonders exzessiven Regeln wie der Shutdown und nächtliche Ausgangsverbote werden zwar eingefroren, können aber jederzeit wieder aufgetaut werden. Und die Bundesnotbremse bleibt auch nach wie vor im Gesetz stehen und kann aktiviert werden. Um ein anderes Bild zu gebrauchen: Es hängt weiterhin das große Geläute im Turm, zur alltäglichen Virus-Warnung und Bekämpfung wird aber nur das kleine Geläut eingeschaltet. Es ist die Palette der Instrumente weiterhin da, sie werden nur nicht alle eingesetzt.

Grundrechte müssen voll und ganz und ohne jede Einschränkungen gelten

Die jetzt geplanten Übergangsregeln werden am 20. März 2022 auslaufen, wenn nicht auch sie nochmal verlängert werden. Ein echter "Freedom Day" ist weiterhin weit weg. Es wird oft so getan, als sei ein solcher Tag etwas Hochproblematisches, als sei es unanständig, sich einen solchen Tag zu wünschen, als sei es schon an der Grenze zur Verfassungsfeindlichkeit, einen solchen Tag zu fordern. Es ist dies aber einfach der Tag, an dem die Grundrechte wieder voll und ganz und ohne jede Einschränkungen gelten. Wer sich diesen Tag wünscht, wer ihn herbeisehnt, der wünscht sich den Normalzustand, wie ihn sich das Grundgesetz vorstellt. Das muss eigentlich unser aller Sehnsucht sein. Wer sich den "Freedom Day" wünscht, der will nicht das immerwährende Oktoberfest; er will einfach das uneingeschränkte gesellschaftliche und private Leben zurück. 

Es ist der Wunsch nach dem großen Aufatmen nach einer Zeit der Atemschwierigkeiten. Die Erfüllung dieses Wunsches ist nichts Unmäßiges. Es ist nicht nur Zeit für das Ende der nationalen Notlage. Es ist Zeit für das Ende des Alarmismus. Es ist Zeit für die Heilung der Gesellschaft. Not- und Ausnahme-Regeln können vor Unheil schützen. Für die Heilung sind die auch Grundrechte da. 

 

Anmerkung der Redaktion: Liebe Leserin, lieber Leser, die Trennung von Meinung und Information ist uns besonders wichtig. Meinungsbeiträge wie dieser Kommentar geben die persönliche Sicht der Autorin / des Autors wieder. Kommentare können und sollen eine klare Position beziehen. Sie können Zustimmung oder Widerspruch auslösen und auf diese Weise zur Diskussion anregen. Damit unterscheiden sich Kommentare bewusst von Berichten, die über einen Sachverhalt informieren und unterschiedliche Blickwinkel möglichst ausgewogen darstellen sollen.

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NDR Info | Kommentar | 31.10.2021 | 09:25 Uhr