Kommentar: Scholz' Machtwort - früher Griff zum letzten Mittel

Stand: 23.10.2022 00:00 Uhr

Kanzler Olaf Scholz musste in der vergangenen Woche seine Richtlinienkompetenz nutzen, um den Streit um die Restlaufzeiten der letzten Atomkraftwerke in Deutschland zu schlichten. Grüne und FDP hatten sich bei dem Thema festgefahren. Dann kam der Kanzler, allerdings mit einem sehr frühen Griff zum letzten Mittel, der viel über den Zustand der Koalition aussagt.

Ein Kommentar von Christoph Schwennicke, freier Autor

Christoph Schwennicke © Cicero/Andrej Dallmann Foto: Andrej Dallmann
Die Nutzung der Richtlinienkompetenz sage auch viel über den Zustand der Koalition aus, meint der freie Autor Christoph Schwennicke.

Es ist so eine Sache mit dieser Richtlinienkompetenz. Klar: Klingt gut, klingt nach Durchregieren, und hat Verfassungsrang, Artikel 65, erster Satz: "Der Bundeskanzler bestimmt die Richtlinien der Politik und trägt dafür die Verantwortung."

Tatsächlich aber verhält es sich mit der Richtlinienkompetenz sehr dialektisch. Sie ist die atomare Option in der Politik. Sie bezieht ihre Wirkkraft vor allem aus der Abschreckung. Aus dem Umstand, dass sie da ist, dass sie eingesetzt werden könnte. Wer sie aber wirklich einsetzt, läuft Gefahr, alle zu schwächen, am Ende auch sich selbst. Weil ihr Einsatz eine Eskalationsspirale in Gang setzt. Wohl deshalb war der explizite Einsatz der Richtlinienkompetenz bislang nur ein einziges Mal verbürgt: von Deutschlands erstem Kanzler Konrad Adenauer.  

Kein Zeichen von Stärke, sondern ein Zeichen von Schwäche

Insofern ist es kein Zeichen von Stärke, sondern ein Zeichen von Schwäche, dass Bundeskanzler Olaf Scholz von dieser atomaren Option des deutschen Regierungschefs bereits nach einem Jahr Gebrauch machen musste. Er wusste sich im Streit zwischen Grün und Gelb über die Laufzeitverlängerung der verbliebenen Atomkraftwerke in Deutschland schlicht keinen anderen Rat mehr, als auf dieses letzte Instrument seiner Macht zurückzugreifen.

Alle Beteiligten in der Koalition nehmen Schaden

An diesem Vorgang nehmen alle Beteiligten in der Koalition Schaden. Zuerst die beiden Streithähne Christian Lindner und Robert Habeck. Was hatten die beiden Frontmänner von Liberalen und Grünen für eine Inszenierung hingelegt in den Koalitionsverhandlungen! Wie man sich näher gekommen sei, wie man gemerkt habe, dass man sich viel näher sei, als man dachte. Dass man gar einen ganz neuen Politikstil des Respekts etablieren würde in diesem Dreierbündnis, das sich wirklich nicht gesucht, aber dann scheinbar doch wider Erwarten gefunden hatte.

Nebbich. Es dauerte nur Monate, und der Firnis der Verträglichkeit brach auf, den Grün und Gelb über ihre ideologisch tiefreichenden Gräben gelegt hatten. Die Lehre: Es reicht nicht, sich persönlich für den Moment gut zu verstehen, wenn beide Seiten zugleich in ihren Glaubenswelten verhaftet bleiben. Neuer Politikstil, wie ihn die Ampel verheißen hatte, hätte in diesem Streit konkret bedeutet: Die einen stellen ihre Atom-Allergie im Licht der Lage hintan, wie es ihnen sogar die Umwelt-Ikone Greta Thunberg vorgemacht hat und lassen mindestens die drei aktiven AKW bis auf Weiteres weiterlaufen, oder sagen wir bis Ende 2024. Und die anderen, die selbsternannte Bleifußpartei FDP, lässt ihren Freiheitsfimmel beim Auto mal beiseite und trägt ein temporäres Tempolimit von 130 auf deutschen Autobahnen mit. Auch bis Ende 2024.

Nahezu kindisches Verhalten

Aber zu beidem waren weder die einen noch die anderen imstande. Stattdessen stilisierten die Grünen die drei Monate Streckbetrieb von zwei Meilern bis April schon zur großen Konzession an die prekäre Lage oder eher: an die nörgelnde FDP. Was schon deshalb Unsinn ist, weil bis zum Frühjahr absehbar nichts besser ist in der Energieversorgung - worauf ja auch mit der verschleppten Gaspreisbremse verwiesen wird, die erst im Frühjahr greift - dann also, wenn die nunmehr drei verlängert betriebenen AKW-Meiler endgültig erkalten. Das ist hinten und vorne nicht logisch und schlüssig und stimmig. Bei den Liberalen wiederum trug deren Verkehrsminister allen Ernstes als Argument gegen ein temporäres Tempolimit vor, dafür fehlten die nötigen Verkehrsschilder! Für so eine Aussage gibt es das schöne Wort: hanebüchen.

So viel zum nahezu kindischen Verhalten der beiden kleineren Partner in der Ampel. Damit zum  Kanzler und dessen Rolle. Olaf Scholz hat bekanntlich immer schon alles vorher gewusst. Das hat er wiederholt öffentlich geäußert, darauf legt er immer wieder großen Wert, zuletzt beim Gas als Waffe in der Hand Wladimir Putins. Daher stellt sich hier die Frage: Wieso hat Kanzler Allwissend dann diesen Clash seiner beiden Koalitionäre nicht schon ebenso lange abgesehen? Und in einer frühen Phase, bevor sie richtig anbrennt, in dieser Sache eingegriffen?

Nicht nur ein extremes Mittel, sondern auch schlechter Stil

Von seiner Vorgängerin Angela Merkel hat Scholz offenbar gelernt, dass man viele Dinge einfach am besten laufen lässt, bis sie sich in den meisten Fällen von selbst auflösen, erledigen oder schütteln. Das mag ein vertretbarer Politikstil in normalen Zeiten sein. In Hochdruckzeiten wie diesen ist er untauglich. Darüber hinaus passt da etwas so gar nicht zusammen. Auf ein langes Laissez Faire des Kanzlers folgt ein Hauruck in Form eines Machtwortes - und das noch nicht mal von Angesicht zu Angesicht (die Dreier-Schalte von Scholz, Habeck und Lindner am Sonntag vorher ging ohne Ergebnis zu Ende), sondern in Form eines Briefes, den er "mit freundlichen Grüßen" zeichnete.

Das ist nicht nur ein extremes Mittel. Sondern auch schlechter Stil. Mit Folgen. Man kennt das aus dem normalen Leben: In Mails laufen viele Menschen zu großer Form auf und finden zu großem Mut bei Aussagen, die sie sich nicht trauten, dem Angeschriebenen ins Gesicht zu sagen. Eine grassierende Unart ist das, schon unter Privat- oder Geschäftsleuten. Um wie viel mehr zwischen dem Kanzler und seinen Vizes.

Es hat sich ein nagendes Misstrauen breit gemacht

Die positiven Signale aus den beiden zerstrittenen Lagern auf den naheliegenden Kanzlerkompromiss sollten nicht darüber hinwegtäuschen: In dieser Ampelkoalition hat sich ein nagendes Misstrauen breitgemacht, das mit diesem Machtwort nicht aus der Welt geschafft ist. Im Gegenteil. Nach nur einem Jahr im Amt hat sich dieses Bündnis als vom Zufall zusammengewürfelt und hochfragil erwiesen. Nurmehr die Macht als allerdings starker Klebstoff vermag diese Koalitionäre weiter zusammenzuhalten.

Es sei besser nicht zu regieren, als schlecht zu regieren. Mit diesem berühmt gewordenen Satz hatte Christian Lindner ein mögliches Bündnis aus Union, Grünen und FDP nach der Bundestagswahl 2017 schon verlassen, bevor es begonnen hatte. Ohne Schaden am eigenen politischen Leib, ohne Schleifspuren bei seiner Partei kann Lindner das kein zweites Mal tun. So sind die Liberalen in der Tat die Unglückswürmer in diesem Bündnis, eingeklemmt und nebensächlicher Übergang zwischen Rot und Grün - wie bei der echten Ampel an der Straßenkreuzung.

Die FDP ist nicht beneiden. Aber auch nicht zu bemitleiden. Sie hat sich selbst in diese Sackgasse manövriert, aus der kein goldener Weg mehr herausführt. Schon gar nicht die erwirkten zwölf Wochen mehr Laufzeit für ein Atomkraftwerk im Emsland.  

Anmerkung der Redaktion: Liebe Leserin, lieber Leser, die Trennung von Meinung und Information ist uns besonders wichtig. Meinungsbeiträge wie dieser Kommentar geben die persönliche Sicht der Autorin / des Autors wieder. Kommentare können und sollen eine klare Position beziehen. Sie können Zustimmung oder Widerspruch auslösen und auf diese Weise zur Diskussion anregen. Damit unterscheiden sich Kommentare bewusst von Berichten, die über einen Sachverhalt informieren und unterschiedliche Blickwinkel möglichst ausgewogen darstellen sollen.

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NDR Info | Kommentar | 23.10.2022 | 09:25 Uhr

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