Kommentar: Konzertiert aus der Krise? Aber nur mit neuen Ideen
Der kommende Winter wird teuer. Energiepreise und Inflation steigen rasant. Immer neue Entlastungsmaßnahmen sollen helfen, Kanzler Scholz setzt auf eine konzertierte Aktion. Sinnvoll, aber für Scholz auch riskant, meint Heike Göbel, Leiterin des Wirtschaftsressorts der FAZ.
Der Wochenkommentar "Die Meinung" von Heike Göbel, FAZ
Der Bundestag hat sich in die Sommerpause verabschiedet. Die letzte Sitzungswoche war bestimmt vom hektischen Bemühen der Ampelkoalition, gesetzlich größtmögliche Vorsorge für eine sichere Energieversorgung im Herbst zu treffen. Der grüne Bundeswirtschaftsminister hat jetzt viele neue Instrumente in der Hand. Robert Habeck darf strauchelnde Energieimporteure stützen und schädliche Kohlekraftwerke länger zum Stromproduzieren anhalten, um die Gasvorräte zu schonen.
Kaum hatte auch der Bundesrat am Freitag den Gesetzen zugestimmt, kam der erste Hilferuf. Der wichtigste Gasimporteur Uniper bittet um staatliche Stützung, im Gespräch sind neun Milliarden Euro. Er verliert derzeit täglich Millionen Euro, weil Russland den Gasfluss schon gedrosselt hat und Uniper deshalb sehr teuer auf den Weltmärkten Gas beschaffen muss, um seine Lieferverträge zu erfüllen. Die höheren Kosten darf der Konzern bisher nicht an seine Endkunden abwälzen. Das genehmigt die Regierung nicht, weil sie einen Aufschrei befürchtet.
Gesetze zerstreuen die Sorge vor einem kalten Winter nicht
An diesem Montag stoppt Gazprom aber nun die gesamte Lieferung durch die wichtigste Pipeline Nord Stream 1, angeblich nur zur Wartung. Doch Präsident Putin droht mit "katastrophalen" Folgen für den Energiemarkt, halte der Westen weiter an den Sanktionen fest. Nicht nur die Bundesregierung befürchtet daher, das Gas könne länger als zehn Tage ausbleiben. Mit Vonovia drosselt der größte deutsche Wohnungskonzern vorsorglich nachts die Heizung seiner Mieter um ein Grad, um Gas zu sparen. Landräte erwägen die Einrichtung öffentlicher Wärmestuben. Reichen wird das nicht. Erst realistische Preissignale werden die nötigen Energieeinsparungen erzeugen, die Ampel sollte diese nach und nach zulassen.
Es dürfte eine unruhige Sommerpause werden. Schwer verständliche Energiegesetze sind wenig geeignet, die Sorgen der Bürger vor einem kalten Winter zu zerstreuen. Und Kanzler Olaf Scholz ist es bisher auch nicht gelungen, die Unruhe über die nun schon mit einer Inflationsrate von fast acht Prozent steigenden Lebenshaltungskosten zu dämpfen. Selbst aus den eigenen Reihen ertönen tagtäglich Forderungen nach weiteren Entlastungspaketen, obwohl die bislang verteilten 30 Milliarden Euro gerade erst bei den Menschen ankommen.
Hilft die "konzertierte Aktion" aus der Krise?
Besonders dringlich mahnt Niedersachsens wahlkämpfender SPD-Ministerpräsident Stephan Weil zum Handel, aus der Energiekrise dürfe nicht auch noch eine soziale Krise werden. Gegen die Inflation kann die Bundesregierung aber wenig ausrichten, das ist Sache der Europäischen Zentralbank. Die EZB kommt ihrer Aufgabe leider nicht richtig nach: Viel zu spät und zögerlich plant sie Ende Juli erstmals eine winzige Zinsanhebung. So bleibt die Geldpolitik vorerst zu locker für das durch Pandemie und Krieg verknappte Angebot an Gütern. Die Inflation könnte länger hoch bleiben.
Die Bundesregierung steckt in der Klemme. Erhört sie die Rufe nach breit gestreuten neuen Hilfen, heizt sie die Inflation an und muss zusätzliche Schulden machen. Das verstößt gegen die Schuldenbremse im Grundgesetz und ist auch fiskalisch zunehmend riskant, denn die Zinswende verteuert die Kredite. Musste der Finanzminister im letzten Jahr vier Milliarden Euro für den Schuldendienst zahlen, kalkuliert er im nächsten Jahr bereits mit 30 Milliarden Euro.
Um Zeit zu gewinnen, hat Kanzler Scholz auf ein Rezept des früheren SPD-Superministers Karl Schiller zurückgegriffen und am Montag öffentlichkeitswirksam Wirtschaftsverbände und Gewerkschaften im Kanzleramt versammelt. Die Runde ist Auftakt einer neuen "konzertierten Aktion". Nach dem Vorbild der 1960er-Jahre soll sie ein gemeinsames Vorgehen gegen die Krise verabreden. Damals ging das freilich nicht lange gut: Nach anfänglicher Zurückhaltung setzten die Gewerkschaften zweistellige Lohnerhöhungen durch und feuerten die Inflation heftig an.
Gewerkschaften ohne Rücksichtnahme
Diesmal hat die IG Metall von vornherein klar gemacht, dass die Löhne nicht im Kanzleramt ausgehandelt werden. Das will sie mit einer Forderung von acht Prozent nun kämpferisch unterstreichen. Rücksichtnahme sieht anders aus. Wer zu runden Tischen einlädt, weckt Erwartungen und trägt die Verantwortung für das Ergebnis. Zum nächsten Treffen der konzertierten Aktion im September soll zwar jeder etwas mitbringen und sagen, welchen Beitrag er zur Linderung der Krise leisten will. Die Augen werden sich aber vor allem auf Scholz richten. Kurz vor der Wahl in Niedersachsen kommt er kaum umhin, Gewerkschaften und Arbeitgebern weitere Hilfe gegen Teuerung und Energiekrise anzubieten, notfalls ohne Gegenleistung. Zu befürchten ist, dass diese Hilfen - wie Tankrabatt und 9-Euro-Ticket - abermals wuchtiger als nötig und viel zu wenig gezielt ausfallen werden.
Staat sollte nur bei Gefährdung des Existenzminimums helfen
Auch ein starker Staat übernimmt sich, wenn er seine Kräfte nicht konzentriert. Helfen sollte er nur da, wo das Existenzminimum gefährdet ist. Alle anderen Bürger müssen jetzt lernen, ihre inflationsbedingten Wohlstandsverluste selbst auszuhalten und zu tragen, notfalls durch längere und härtere Arbeit. FDP-Finanzminister Christian Lindner hat für seinen Vorstoß, die Arbeitszeit auszuweiten, kürzlich Empörung geerntet. Die konzertierte Aktion wird aber nur zum Erfolg, wenn sie Lindners Vorschlag aufgreift oder ähnliche entwickelt. "Gemeinsam umdenken, statt gemeinsam Schulden machen", lautet die richtige Antwort im Kampf gegen Putin und die Inflation.
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