Bundeskanzler Olaf Scholz (SPD), spricht mit Außenministerin Annalena Baerbock (Bündnis90/Die Grünen), die mit dem Rücken zur Kamera steht. © picture alliance/dpa/dpa-pool | Michael Kappeler Foto: Michael Kappeler

Kommentar: Die seltsame Verdruckstheit von Bundeskanzler Scholz

Stand: 05.06.2022 00:00 Uhr

Die Kritik an Bundeskanzler Olaf Scholz (SPD) und seinem Kurs im Russland-Ukraine-Konflikt nimmt auch nach der Generaldebatte im Bundestag nicht ab. Der Regierungschef hatte sich dort deutlich für Waffenlieferungen an die Ukraine ausgesprochen.

Der NDR Info Wochenkommentar "Die Meinung" von Markus Feldenkirchen ("Der Spiegel")

Am vergangenen Mittwoch hatte der deutsche Bundeskanzler seinen bislang stärksten, weil leidenschaftlichsten Auftritt im Bundestag. Dort, wo er sonst bevorzugt narkotisierende Reden hält, blühte er förmlich auf. Wurde laut, wurde scharf - und verteidigte sich gegen all die Kritik, die ihm entgegenschlägt. Vor allem gegen den Vorwurf, er persönlich wolle der Ukraine nicht so richtig helfen, allenfalls halbherzig.

Nichts davon sei wahr, beteuerte Scholz. Und wie zum Beweis, kündigte er vor den Abgeordneten an, dass zusätzlich zu den bisher gemachten Versprechungen auch noch ein hochmodernes Flugabwehrsystem aus deutscher Herstellung an die Ukraine geliefert würde. Und vier Raketenwerfer vom Typ Mars 2 aus den Beständen der Bundeswehr sollen ebenfalls folgen.

Wertvolle Zeit für die Ukraine wurde vertan

Der deutsche Journalist und Schriftsteller Markus Feldenkirchen © Markus Feldenkirchen Foto: Markus Feldenkirchen
Markus Feldenkirchen meint, dass der Kanzler mit seinem Kurs im Russland-Ukraine-Konflikt zum Getriebenen und Gedrängten geworden ist.

Kann man Scholz da wirklich vorwerfen, halbherzig zu sein?Ja, das kann man. Es wäre erstens mehr militärische Hilfe für die Ukraine möglich gewesen und zweitens schnellere. Beides hätte man wollen können. Man wollte aber nicht. Insofern wurde in den ersten 100 Tagen Zeit vertan, es wurden Gelegenheiten verpasst, die wichtig gewesen wären für die Ukraine. Bislang jedenfalls wurde keine einzige schwere Waffe aus Deutschland geliefert.

Immer geht der Impuls von anderen aus

Der Kanzler ist seit Beginn des russischen Überfalls mit einer seltsamen Verdruckstheit unterwegs, die vielerorts für Empörung sorgt - in Kiew und in Osteuropa zum Beispiel -, die zumindest aber Fragen aufwirft. Fest steht: Bislang hat die Bundesregierung nie aus eigenem Impuls Waffen an die Ukraine geliefert oder eine Lieferung schwerer Waffen angekündigt. Immer ging der Impuls von anderen aus, von den Niederlanden oder den USA zum Beispiel. Und immer war der Druck auf die Regierung zuvor maximal groß gewesen - von ausländischen Politikern, die angesichts der deutschen Tatenlosigkeit verzweifelten, oder von Ampel-Politikern wie Marie-Agnes Strack-Zimmermann (FDP) oder Anton Hofreiter (Grüne), die furchtlos genug sind, dem eigenen Kanzler zu sagen, was sie von dessen Zögerlichkeit halten: wenig bis nichts.

Scholz ist ein Getriebener und Gedrängter

Scholz ist so zum Getriebenen und Gedrängten geworden. Es entstand der nicht ganz falsche Eindruck, Deutschland liefere nur ungern das, was den Ukrainern schnell und unmittelbar hilft, sondern vor allem Waffen, die man selbst längst aussortiert hatte und die zudem ein kompliziertes, langwieriges Training voraussetzen - beides ist beim Flugabwehrpanzer Gepard der Fall, der irgendwann im Sommer vielleicht tatsächlich mal in die Ukraine geliefert wird. Für ein Land, dass sich genau jetzt gegen die russische Offensive stemmen muss, ist dies nur bedingt hilfreich.

Kanzler-Rhetorik ist seltsam spitzfindig

Die Zögerlichkeit beim Liefern von Waffen wird flankiert von Scholz' Weigerung, Kiew zu besuchen - als Zeichen der Unterstützung, der bedingungslosen Solidarität. Und sie wird flankiert von einer seltsam spitzfindigen Kanzler-Rhetorik. Der Satz "Die Ukraine soll diesen Krieg gewinnen" geht ihm jedenfalls nicht über die Lippen. Er sagt zwar, Russland dürfe nicht gewinnen und die Ukraine nicht verlieren, aber eben nicht diesen Satz.

Scholz scheint prekäres Gleichgewicht anzustreben

Natürlich möchte Scholz nicht, dass die Ukraine untergeht. Aber er will offenkundig auch nicht, dass Russland verliert, Putins Truppen also völlig gedemütigt den Rückzug antreten müssen - womöglich aus Angst vor einer nuklearen Eskalation. So scheint Scholz ein prekäres Gleichgewicht anzustreben, das das genau richtige Maß an Unterstützung erfordert - nicht zu viel, nicht zu wenig.

Ängste sind kein kluger Ratgeber

Der Kanzler selbst hat immer wieder vor einer Eskalation des Krieges gewarnt und Anspielungen auf das nukleare Potenzial gemacht, über das Russland verfügt. Von manchen wird dieser Kurs als Besonnenheit gerühmt. Auch viele Bürgerinnen und Bürger glauben, dass Scholz' Zurückhaltung sie vor dem Atomkrieg bewahren würde. Das ist natürlich legitim; seine Ängste sucht sich niemand selbst aus, man muss Verständnis dafür haben. Und trotzdem sind Ängste kein kluger Ratgeber. Auch für diesen Krieg nicht.

Auf die Unterstützung durch den Westen kommt es an

Wladimir Putin wird sich erst dann an den Verhandlungstisch setzen, wenn er ein Interesse daran hat. Solange er noch darauf hoffen kann, dass die Ukraine demnächst kapituliert, weil ihnen bald die Waffen zur Verteidigung ausgehen, wird dies nicht der Fall sein. Erst wenn er merkt, dass die Unterstützung des Westens massiv und nachhaltig ist und Russland für die Fortsetzung des Krieges einen zu hohen Preis bezahlen muss, wird das Interesse an Friedensverhandlungen auch bei ihm steigen.

In der Bundesregierung haben das manche längst verstanden. Aber scheinbar noch nicht alle.

Anmerkung der Redaktion: Liebe Leserin, lieber Leser, die Trennung von Meinung und Information ist uns besonders wichtig. Meinungsbeiträge wie dieser Kommentar geben die persönliche Sicht der Autorin / des Autors wieder. Kommentare können und sollen eine klare Position beziehen. Sie können Zustimmung oder Widerspruch auslösen und auf diese Weise zur Diskussion anregen. Damit unterscheiden sich Kommentare bewusst von Berichten, die über einen Sachverhalt informieren und unterschiedliche Blickwinkel möglichst ausgewogen darstellen sollen.

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NDR Info | Kommentar | 05.06.2022 | 09:25 Uhr