Kreuz vor einem Kirchenfenster © photocase.de Foto: claudiarndt

Kommentar: Die Kirche braucht die Umkehr zu sich selbst

Stand: 26.05.2022 00:00 Uhr

Beim derzeitigen Katholikentag in Stuttgart geht es auch um die Zukunft der Kirche. Und diese Zukunft ist angesichts der großen, ungeklärten Probleme der Kirche ungewiss.

Ein Kommentar von Heribert Prantl, Kolumnist und Autor der "Süddeutschen Zeitung"

Zum Katholikentag in Stuttgart ist mir ein Bild eingefallen, das mit der Kirche eigentlich gar nichts zu tun hat. Es ist nicht das Bild vom letzten Abendmahl, nicht ein Bild von dem Tisch, an dem Jesus mit seinen Jüngern in bedrängter Situation Platz nimmt. Mir ist das Bild von Putins Tisch in Moskau eingefallen. Sie erinnern sich gewiss an diesen Tisch, an diesen entsetzlich leeren und lächerlich langen Tisch: An der einen Schmalseite sitzt Putin. An die andere Schmalseite hatte Putin erst Macron und dann Scholz gesetzt, um denen dann über die sechs Meter Entfernung vorzulügen, dass es keinen Krieg gegen die Ukraine geben wird.

Es war eine absurde Szenerie, es war die Inszenierung von Zukunftslosigkeit, weil an so einem Tisch die Zukunft nicht Platz nimmt. Das Bild war dann der Anlass für allerlei Analysen und Kommentare über die Isolation Putins, über seinen Größenwahn und über sein Scheitern über kurz oder lang. Kurz darauf begann er den Krieg.

Wachsende religiöse Entfremdung

Der Journalist Heribert Prantl © Jürgen Bauer Foto: Jürgen Bauer
Nicht nur die Kirche in Deutschland, sondern die Weltkirche sei in einer existenziellen Systemkrise, meint Heribert Prantl.

Der leere Tisch im Kreml war kein Bild des Friedens. Er war eine Allegorie der aggressiven Entzweiung. Ich bin vor mir selbst erschrocken, als ich bei diesem Bild der Leere nicht nur an den Kreml, sondern an die Kirche dachte - an die katholische Kirche, der ich trotz meines Zorns über sie angehöre.

Ich dachte an die Distanz zwischen den Gläubigen und der kirchlichen Hierarchie, die viel größer ist als nur sechs Meter; ich dachte an die wachsende religiöse Entfremdung; ich dachte an die Flucht von Hunderttausenden von Kirchenmitgliedern aus dieser Kirche; ich dachte an die immer höheren Zahlen der Kirchenaustritte, die auf diese Weise auch gegen die Missbrauchsskandale protestieren und gegen die unzureichende Art ihrer Aufklärung; ich dachte an die leeren Kirchen, in denen das ewige Licht wie ein Warnsignal brennt; und ich dachte an die Reformbewegung "Synodaler Weg", die den leeren Tisch zu einem gedeckten Tisch machen will, an dem man gern Platz nimmt - zu einem Tisch, an dem man zusammenrückt, an dem man Gemeinschaft spürt, an dem man trotz alledem, trotz aller Nöte und Gefahren auf Kräftigung hofft und darauf, dass es ein Morgen gibt.

Weltkirche ist in einer existenziellen Systemkrise

Mich fasst die Tristesse und die Trostlosigkeit an, die dieser leere Tisch verbreitet. Es ist ein Gefühl, das mich überfällt, wenn ich über die Kirche nachdenke, nicht nur, aber vor allem über die katholische, die den Missbrauchsskandal so lange verheimlicht und verharmlost hat, weil sie geglaubt hat - und manchmal immer noch glaubt -, sie müsse sich nur ducken, bis der Sturm vorübergeht; weil sie zu einer radikalen Umkehr bisher nicht fähig ist.

Nicht nur die Kirche in Deutschland, die Weltkirche ist in einer existenziellen Systemkrise - auch deswegen, weil sie sich den Fragen nach den Fehlern im System nicht oder viel zu wenig stellt. Sie braucht Umkehr zu sich selbst. Die sexuelle Ausbeutung von Wehrlosen ist das Risiko einer zwangszölibatären, autoritären Kirche, die in 2.000 Jahren zwar die Frauen aus allen Machtpositionen vertrieben hat, aber den Menschen nicht die Sexualität austreiben konnte.

Kirchen haben Verbote und Tabus in die Köpfe gepflanzt

Die Kirche hat jahrhundertelang Sünden gepredigt, die keine sind. Das sündige Dogma hieß und heißt immer noch: Sex ist allein in der Ehe von Mann und Frau erlaubt. Und die Ehe, so sagt das Dogma, steht unter der doppelten Forderung der Treue und der Fortpflanzung. Das sei Gottes Schöpfungsordnung. Alles andere: Sünde.

Für eine solche Theologie ist das konkrete Leben ganz offensichtlich keine erkenntnisleitende Kategorie. Man nennt das Dogmatismus. Wenn man dieser dogmatischen Theorie, wenn man dieser Sicht folgt, dann wird aus dem, was der menschliche Normalfall ist, dass man also vor der Ehe miteinander schläft, dass viele Menschen homosexuell geboren werden, dass Ehen scheitern, eine kaum beherrschbare "komplexe Situation". Die Kirchen haben Verbote und Tabus in die Köpfe gepflanzt. Sexualität hat so eine besondere Nähe zu Schmutz und Sünde. 

Es braucht eine Jahrtausendreform

Indes: Keine sexuelle Orientierung ist an sich verwerflich. Verwerflich ist aber jeder unfreiwillige, bemächtigende, gewalttätige Sex, nicht die Partnerschaft von zwei Männern oder Frauen. Verwerflich sind in der Bibel Ausbeutung, Machtmissbrauch, Erniedrigung und Heuchelei. Die Kirche ist keine Anstalt zur Absegnung von Unrecht und Gewalt; es ist also gut, dass die Segnung von Waffen Geschichte ist. Die Glaubenswächter sollten aber nicht so töricht sein, diese Einsicht auf gleichgeschlechtliche Liebe anzuwenden. Papst Franziskus tut gut daran, wirtschaftlichen Praktiken, die ausbeuten, erniedrigen und töten, den Segen zu verweigern. Es wird aber Zeit, dass er auch den Praktiken der männerbündischen Verteidiger fundamentalistischer Sexuallehren im eigenen Haus den Segen entzieht, weil sie die Homophobie und weil sie die Unterdrückung von Frauen befördern.

Der sogenannte Missbrauchsskandal ist ein Jahrtausendskandal. Es braucht daher eine Jahrtausendreform. Der Katholikentag sollte dazu beitragen, sie auf den Weg zu bringen.

Anmerkung der Redaktion: Liebe Leserin, lieber Leser, die Trennung von Meinung und Information ist uns besonders wichtig. Meinungsbeiträge wie dieser Kommentar geben die persönliche Sicht der Autorin / des Autors wieder. Kommentare können und sollen eine klare Position beziehen. Sie können Zustimmung oder Widerspruch auslösen und auf diese Weise zur Diskussion anregen. Damit unterscheiden sich Kommentare bewusst von Berichten, die über einen Sachverhalt informieren und unterschiedliche Blickwinkel möglichst ausgewogen darstellen sollen.

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NDR Info | Kommentar | 26.05.2022 | 09:25 Uhr