Nach gescheiterter Kanzler-Wahl: Merz tritt zum zweiten Mal an
CDU-Chef Friedrich Merz ist bei der Kanzlerwahl im Bundestag im ersten Wahlgang gescheitert. Er erhielt in geheimer Abstimmung 310 Ja-Stimmen und damit sechs weniger als die absolute Mehrheit von 316. Aktuell läuft der zweite Wahlgang.
Damit hat wohl kaum einer gerechnet: CDU-Chef Friedrich Merz hat heute Vormittag im ersten Wahlgang bei der Kanzlerwahl keine Mehrheit erreicht. Es ist ein bisher einmaliger Vorgang in der Geschichte der Bundesrepublik Deutschland. Noch nie ist nach einer Bundestagswahl und erfolgreichen Koalitionsverhandlungen ein designierter Kanzler bei der Wahl im Bundestag gescheitert.
Es folgten stundenlange Beratungen der Fraktionen über einen zweiten Wahlgang noch heute. Dabei ging es auch um die juristische Prüfung dieser Möglichkeit. Nötig dafür war eine Fristverkürzung. Diese hat der Bundestag am Nachmittag mit der erforderlichen Zweidrittelmehrheit beschlossen. Unterstützt wurden Union und SPD dabei von den Grünen und den Linken. Anschließend begann der zweite Wahlgang, der aktuell noch läuft.
Das Grundgesetz regelt die Kanzlerwahl in Artikel 63. Der Bundestag hat nach dem Scheitern des ersten Wahlgangs 14 Tage Zeit, mit der Kanzlermehrheit einen Bundeskanzler zu wählen. Innerhalb dieser Frist sind beliebig viele Wahlgänge möglich. Gibt es auch danach keine absolute Mehrheit, reicht in einer dritten Wahlphase die Mehrheit der Stimmen der anwesenden Abgeordneten.
Weil: "Belastung für unsere Demokratie"
Niedersachsens Ministerpräsident Stephan Weil (SPD) zeigte sich "sehr besorgt" über die gescheiterte Kanzlerwahl. Die fehlenden Stimmen für Merz seien "gerade in der aktuellen Situation eine Belastung für unsere Demokratie", sagte Weil. "Wechselseitige Vorwürfe helfen dabei nicht weiter." Auf allen Abgeordneten der beiden potenziellen Regierungsfraktionen aus Union und SPD liege jetzt eine große Verantwortung, so Weil. "Unser Land braucht eine handlungsfähige Regierung, und zwar schnell."
Middelberg: "Gewisse Enttäuschung" bei Niedersachsen-CDU
Der niedersächsische Abgeordnete Mathias Middelberg, bislang stellvertretender CDU-Fraktionsvorsitzender, sagte im Interview auf phoenix, dass die fehlenden Stimmen als "Denkzettel" für Merz zu interpretieren sind. "Ich kann mir vorstellen, dass der ein oder andere Frust ablassen wollte", sagte Middelberg. Vielen sei nicht klar gewesen, was sie mit einer "Stimme der Enttäuschung" auslösen. Middelberg bestätigte, dass es eine "gewisse Enttäuschung" gebe, weil die Niedersachsen-CDU keinen Ministerposten abbekommen hatte. "Aber ich bin mir sicher, dass deswegen keiner meiner niedersächsischen Kolleginnen und Kollegen entsprechend gewählt hat“, so Middelberg.
Schwesig setzt auf zügige Regierungsbildung
Mecklenburg-Vorpommerns Ministerpräsidentin Manuela Schwesig setzt trotz des vorläufigen Scheiterns der Kanzlerwahl auf eine zügige Bildung einer neuen Bundesregierung. "Ich finde das, was heute passiert, ist unverantwortlich", sagte die SPD-Politikerin.
Als Ministerpräsidentin eines ostdeutschen Bundeslands wisse sie, wie schwer es gerade vor Ort sei. In den letzten Tagen sei intensiv dafür gearbeitet worden, eine gute, stabile Regierung bilden zu können und den Menschen Antworten geben zu können. Schwesig war auf SPD-Seite an den Koalitionsverhandlungen mit CDU und CSU beteiligt.
Prien: "Die ganze Welt schaut auf uns"
Diesen Tag hatte sich auch die designierte Bildungsministerin und CDU-Bundesvize Karin Prien anders vorgestellt. Prien, die zuvor das gleiche Amt in der schleswig-holsteinischen Landesregierung innehatte, spricht von einem emotionalen Auf und Ab. "Aber es geht ja weniger um mich, sondern ich mache mir schon große Sorgen um die Stabilität unseres demokratischen Systems." Sie nannte die gescheiterte Kanzlerwahl eine ernste Angelegenheit. Dennoch müsse man jetzt die Nerven behalten.
Wadephul: Merz "politisch nicht beschädigt"
Der designierte Außenminister Johann Wadephul aus Schleswig-Holstein sieht Friedrich Merz nach eigenen Worten nicht politisch beschädigt. "Es hat doch schon zahlreiche Wahlgänge von Ministerpräsidenten in ganz Deutschland gegeben, wo es im ersten Wahlgang nicht gereicht hat. Auch in anderen Staaten ist das schon passiert. Und wer redet heute noch darüber, ob es im ersten oder zweiten Wahlgang geklappt hat", sagte der CDU-Politiker. Am Ende sei die Wahl eine Gewissensentscheidung, die sei "bedauerlicherweise so ausgefallen, wie sie ausgefallen ist".
Midyatli: "Kein guter Tag in der deutschen Politik"
Für die Landesvorsitzende der SPD Schleswig-Holstein und SPD-Bundesvize, Serpil Midyatli, gehöre die gescheiterte Wahl von Merz im ersten Wahlgang zu den historischen Ereignissen in Deutschland, die man lieber nicht miterleben möchte. "Das ist kein guter Tag in der deutschen Politik", sagte Midyatli. "Ich gehe davon aus, dass sich jetzt die Fraktionsspitzen auf ein Verfahren einigen, um zügig die Regierungsbildung anzugehen." Sie sei kein Fan einer Koalition mit der Union, "aber wir haben uns parteiübergreifend gemeinsam auf diesen Weg gemacht, um dieses Land weiter stabil und verlässlich regieren zu können", so die SPD-Politikerin weiter.
CDU SH: Abstimmungsverhalten "der Weltlage nicht angemessen"
Lukas Kilian, Generalsekretär der CDU in Schleswig-Holstein nannte das Abstimmungsverhalten der Bundestagsabgeordneten im Gespräch mit NDR SH "verantwortungslos, geschichtsvergessen und der Weltlage nicht angemessen".
Hamburgs CDU-Landes- und Fraktionschef Dennis Thering sieht im Scheitern seines Bundesvorsitzenden Friedrich Merz im ersten Wahlgang eine schwere Belastung für die Demokratie. "Dass bei der Wahl des Bundeskanzlers die erforderliche Mehrheit verfehlt wurde, ist ein beispielloser Vorgang für unser Land und spielt mit Sicherheit den falschen Kräften in die Hände." In Zeiten großer Unsicherheit sei dies "das völlig falsche Signal", sagte Thering.
Günther: Starker Zusammenhalt in der Koalition nötig
Vor der gescheiterten Wahl hatte sich Schleswig-Holsteins Ministerpräsident Daniel Günther (CDU) auf NDR Info noch optimistisch gezeigt. Er sprach von einer "riesengroßen Aufgabe" für Friedrich Merz mit der schwarz-roten Koalition, wieder Vertrauen in die Politik zurückzugewinnen.
"Die politischen Ränder haben Zuwachs, weil Menschen immer weiter auch enttäuscht sind von politischen Entscheidungen, sicherlich von der Ampel auch in den letzten vier Jahren enttäuscht worden sind", sagte Günther. Union und SPD seien zum Regierungserfolg auch deshalb verdammt, um erfolgreich gegen "die Bedrohung von Demokratiefeinden" der AfD vorzugehen. Dafür sei unbedingt starker Zusammenhalt in der Koalition nötig.
"Wir müssen die Menschen nicht nur von unserer Politik überzeugen, sondern auch davon, dass in einer Demokratie die Dinge auch schnell und gut geregelt werden können. Das schafft Vertrauen. Und dann bin ich sehr, sehr sicher, dass die Wahl 2029 auch wieder ganz anders ablaufen wird und die AfD wieder auf Normalmaß zurechtgestutzt wird."
Koalitionsvertrag unterschrieben: Fünf Minister aus dem Norden
Gestern hatten Union und SPD ihren Koalitionsvertrag unterschrieben. Zuvor hatte die SPD ihre Minister bekannt gegeben - darunter auch drei Norddeutsche. Neben Boris Pistorius als Verteidigungsminister sind Lars Klingbeil als Finanzminister und Vizekanzler und Reem Alabali-Radovan als Entwicklungsministerin vorgesehen.
Eine Woche zuvor hatte die CDU bereits ihre Personalien für die Ministerposten der künftigen Bundesregierung benannt. Mit Johann Wadephul als Außenminister und Karin Prien als Bildungsministerium sind zwei CDU-Politiker aus Norddeutschland im Kabinett vertreten.
Olaf Scholz bereits mit großem Zapfenstreich verabschiedet
Gestern Abend war Bundeskanzler Olaf Scholz bereits mit einem großen Zapfenstreich verabschiedet worden. Auf Bitten des Bundespräsidenten ist er nun verpflichtet, die Amtsgeschäfte so lange weiterzuführen, bis dieser einen Nachfolger ernannt hat.
