Eine Frau hält auf dem Steintorplatz in Hannover ein Plakat, auf dem steht "I stand with Israel". © NDR Foto: Felix Franke
Eine Frau hält auf dem Steintorplatz in Hannover ein Plakat, auf dem steht "I stand with Israel". © NDR Foto: Felix Franke
Eine Frau hält auf dem Steintorplatz in Hannover ein Plakat, auf dem steht "I stand with Israel". © NDR Foto: Felix Franke
AUDIO: Nachgedacht: Wenn Tabus und rote Linien verschwinden (4 Min)

Nachgedacht: Wenn Tabus und rote Linien verschwinden

Stand: 13.10.2023 06:00 Uhr

Angriff auf Israel, Wahlergebnisse in Bayern und Hessen: Die letzten Tage werfen fürchterliche Fragen auf - nicht nur nach der Gewaltfähigkeit von Menschen. Die Gesellschaft steht auf dem Prüfstand, findet unser Kolumnist.

von Ulrich Kühn

Irgendwann werden sich Historiker, Politikwissenschaftlerinnen und Soziologen daran machen, genau herauszufinden, wann es angefangen hat. Im Moment herrscht Ratlosigkeit, jedenfalls sieht es für mich so aus. Was da seit einiger Zeit geschieht, fühlt sich ja an wie eine große Erosion. Zugleich ist man sich nicht sicher, ob dieses Gefühl nicht nur Einbildung ist. So kreuz und quer geht es mit den Bestandsaufnahmen, Deutungen, Therapievorschlägen, dass man fast nicht anders kann, als das Durcheinander selbst für ein Symptom zu halten. Nur, wofür? Wahrscheinlich verheißt es nichts Gutes, wenn sogar professionelle Erklär-Menschen sich gar nicht darüber einig sind, was da schiefgeht und warum; nur dass es schiefgeht, das sehen sie alle.

Ist unsere Gesellschaft gespalten?

Ulrich Kühn © NDR Foto: Christian Spielmann
Kolumnist Ulrich Kühn sorgt sich wegen umgreifender Affektpolitik, einer Spaltung der Gesellschaft und der Gewaltfähigkeit von Menschen.

Aber ist die Gesellschaft nun gespalten? Oder im Gegenteil gar nicht gespalten? Es ist einige Tage her, da wurde der in Rostock geborene Soziologe Steffen Mau zum Kronzeugen dafür ausgerufen, dass die Spaltung der Gesellschaft nur herbeigeredet sei. In Wahrheit sei da viel Einigkeit. Hurra, Entwarnung, es lebe die Hoffnung! Seitdem ist Steffen Mau damit beschäftigt, in Interviews zu erklären, dass da ein Missverständnis waltet. In seinem Buch "Triggerpunkte" befassen sich zwei Kollegen und er mit den Konfliktlagen der Gegenwart; nicht auf Gefühlsbasis oder mit einer forschen Meinung im Kreuz, sondern auf Untersuchungen gestützt. Ergebnis: Es stehen sich nicht zwei gesellschaftliche Großgruppen gegenüber, also gibt es keine Spaltung in zwei Lager. Aber konfliktreich und erhitzt sei die Gesellschaft schon. Und die Ränder sind radikalisiert.

Da werden dann "Sollbruchstellen" unserer Debatten wichtig, Momente, in denen, sagt Mau, "sachliche Diskussionen in emotionale umschlagen - und sich Leute plötzlich anders zuordnen, als sie es angesichts ihrer eigentlichen politischen Präferenzen klassischerweise tun würden". Erkennen Sie was wieder? Vielleicht auch den Mechanismus, den Mau so beschreibt: Themen werden derart angespitzt, dass sie "umgehend im Zentrum der politischen Debatte landen", und schon richten Leute, die keine Bindung an eine Partei mehr verspüren, ihre gesamte politische Position danach aus. Was eben noch Rand war, ist nicht mehr Rand. Das, sagt Mau, sei das Ergebnis von "Affektpolitik". Die kann aber nur funktionieren, weil die alten Bindungen weg sind. Dagegen aufzukommen in einer emotionalisierten Gesellschaft - wirklich, wirklich nicht einfach.

Schwinden nicht nur Bindungen, sondern auch Tabus?

Soweit, grob zusammengefasst, der empirisch geschärfte Blick. Ich frage sich mich natürlich schon, ob da nicht noch mehr ist. Was hat Tage nach der sprachlos machenden Mordattacke der Hamas auf Israel, auf Frauen, auf Kinder, auf Babys - was hat das dröhnende Schweigen engagierter Milieus zu bedeuten, die sonst laut und sichtbar sind? Die Publizistin Mirna Funk fragt sich in der WELT, wo denn all die Feministinnen bleiben, die sonst gegen jede Misshandlung von Frauen aufbegehren. SPIEGEL-Kolumnist Sascha Lobo wendet sich mit einem beinahe schon komisch-verzweifelten Appell an jene, die auf Social Media jede Solidaritätsadresse unterstützen - nur nicht für Israel in dieser Lage.

Der Soziologe Armin Nassehi hat in der ZEIT kein Verständnis dafür, dass Kritik am islamischen oder islamistischen Antisemitismus in einer deutschen linken Öffentlichkeit als "Rassismus" abqualifiziert wird, "etwa, wenn derzeit die ekelhaften Unterstützerdemos von Palästinensern auf deutschen Straßen kritisiert werden". Doch die Diskussion darüber, "ob der Antisemitismus von hier stammt oder aber von Migranten eingeführt wird" - die hält er trotzdem für "dummes Gerede". Die Wurzeln des Antisemitismus seien in beiden Fällen sehr ähnlich. Ich finde das alles nachvollziehbar. Und kann es dann also sein, frage ich mich angesichts der Ereignisse und Wahlergebnisse - kann es sein, dass nicht nur Bindungen schwinden? Sondern auch heilsame Tabus? Elementare rote Linien, die rasend schnell verblassen? Und kann es sein, dass das noch gefährlicher ist als eine Spaltung der Gesellschaft bei intakten Tabus?

Anmerkung der Redaktion: Liebe Leserin, lieber Leser, die Trennung von Meinung und Information ist uns besonders wichtig. Meinungsbeiträge wie dieser Kommentar geben die persönliche Sicht der Autorin / des Autors wieder. Kommentare können und sollen eine klare Position beziehen. Sie können Zustimmung oder Widerspruch auslösen und auf diese Weise zur Diskussion anregen. Damit unterscheiden sich Kommentare bewusst von Berichten, die über einen Sachverhalt informieren und unterschiedliche Blickwinkel möglichst ausgewogen darstellen sollen.

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Ulrich Kühn, Claudia Christophersen und Alexander Solloch. © NDR Foto: Christian Spielmann

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Dieses Thema im Programm:

NDR Kultur | NachGedacht | 13.10.2023 | 10:20 Uhr

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Der Arm einer Frau bedient einen Laptop, der auf einem Tisch in einem Garten steht, während die andere Hand einen Becher hält. © picture alliance / Westend61 | Svetlana Karner

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