NDR Kultur Literaturredakteur Alexander Solloch vor einer Backsteinwand. © NDR Foto: Manuel Gehrke

Nachgedacht: Ist Merz Deutschland?

Stand: 08.09.2023 06:00 Uhr

Keiner will sie, viele arbeiten an ihr: Die Spaltung des Landes in unversöhnliche Lager droht. Muss das sein?

von Alexander Solloch

Hubert Aiwanger, der Hauptdarsteller des in Bayern grad so erfolgreichen anti-aufklärerischen Laienspiels, ist ja für die Allgemeinheit eine eher unwichtige Person, Friedrich Merz aber leider nicht. Man soll darum nicht vergessen, was der deutsche Oppositionsführer, der Chef der Christlich-Demokratischen Union, diese Woche im Bierzelt gerufen hat: "Nicht Kreuzberg ist Deutschland!" Was das bedeutet, lässt sich auch im Alkoholrausch noch leicht ermitteln: Das Vielfältige, das Fremde, das Andere, das nicht auf Anhieb Verständliche, Kreuzberg, Wilhelmsburg und die Schanze, Hannover-Linden und die Kröpeliner-Tor-Vorstadt in Rostock - das alles ist nicht Deutschland, das wollen wir nicht haben, das muss weg.

Leere im Kopf, Wüste im Herzen?

Wer hingegen noch bei Trost ist statt bei Prost, kann ja gar nicht bestreiten, dass Friedrich Merz wiederum … nun, nicht gerade Deutschland ist, wie man wohl in der gerade weit verbreiteten Kleinkindsprache entgegnen müsste, aber doch immerhin zu Deutschland dazugehört, und das ist ja auch prima, man möchte es sich gar nicht anders wünschen. Deutschland ist eben nicht nur frühlingsduftend schön, es nervt auch und verdrießt, das ist gut, da wird's dann nie langweilig: Man ist immer wieder gezwungen, seine eigene Position zu prüfen und zu präzisieren, ein Glück also, dass Merz zu Deutschland gehört wie ja auch die "Bild"-Zeitung und der Spargel. Schwer erklärlich ist nur, warum Leute wie er ihrerseits keine Freude daran empfinden können, dass nicht alle so sind wie sie selbst. Was versprechen sie sich von der Ödnis, die sie sich herbeiwünschen, von der Leere im Kopf, der Wüste im Herzen? Wer kein Kreuzberg will, will ja auch keine Literatur, keine Kunst, keine Verblüffung, keine Erschütterung. Es ist doch immer wieder erstaunlich, wie wenig sich die Menschen um ihr eigenes Wohlergehen kümmern.

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Das wäre nun des CDU-Vorsitzenden ganz persönliches Problem, wenn er nicht ein Mann mit medialer Wirkung wäre. Wie ein 17-Jähriger, der weiß, dass man seine Worte und Taten später ohnehin als lässliche "Jugendsünde" verniedlichen wird (zwar nicht dann, wenn er etwa fürs Klima, aber doch immerhin garantiert dann, wenn er für Fremdenfeindlichkeit eintritt), weigert er sich immer noch, die mit seiner Funktion einhergehende Verantwortung zu übernehmen. Kinder, die ihm fremd scheinen, beschimpft er pauschal als "Paschas", Kriegsflüchtlingen unterstellt er "Sozialtourismus", und Stadtteile, die irgendwie anders aussehen als das Sauerland oder ein bayerisches Bierfass, nennt er "nicht deutsch". Damit tut er genau das, was Spalter tun: Menschen ausschließen, für unzugehörig erklären, ausgrenzen.

"Methode Trump" auch bei uns wirksam?

Man sagt, alles, was gerade in den USA im Trend sei, schwappe binnen weniger Jahre zu uns herüber. Die bayerische Affäre dieser Tage zeigt, wie verführerisch - und wie wirksam! - die "Methode Trump" mittlerweile auch bei uns geworden ist: Tricksen, lügen, das eigene Leid bejammern, aufklärerische Medien verdammen und jegliche Scham aus dem Umkreis des eigenen Egos bannen - das also funktioniert jetzt auch in Deutschland sehr gut, sofern Bayern auch Deutschland ist. Falls es grad passt und nicht schon zu spät ist, wäre es doch aber ganz hübsch, wenn die Politik daran arbeiten würde, wenigstens eine Spaltung amerikanischen Ausmaßes zu verhindern. Sie nützt niemandem außer jenen, die Merz mal halbieren wollte, als sie noch halb so stark waren wie heute. Dem CDU-Chef ist darum auch keinesfalls zu unterstellen, dass er die Spaltung will; nur wirkt da eine Kraft in ihm, die stärker ist als er selbst und sein Wille und seine Vernunft.

Wo aber waltet Vernunft? Im Traum: Daniel Günther teilt seinem Parteivorsitzenden bei einem Glas Milch in Kiel-Gaarden mit, Fritz, du hast das Rentenalter ehrenvoll erreicht, die Zeit des Polit-Tourismus ist vorbei.

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Dieses Thema im Programm:

NDR Kultur | NachGedacht | 08.09.2023 | 10:20 Uhr

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