Eine Frau hält eine Spritze vor die Augen und sieht auf den Tropfen, der sich aus der Nadel drückt. © imago images / ITAR-TASS Foto: ITAR-TASS

Der Pandemie zum Trotz - mit Wucht in das Kulturjahr

Stand: 14.01.2022 04:00 Uhr

Literatur, Kunst, Film - alle wollen sie eins: weitermachen! Bloß nicht die Nerven verlieren! Gut so, findet Claudia Christophersen.

von Claudia Christophersen

Das neue Jahr ist jetzt auch schon wieder 14 Tage alt, Corona ist immer noch da, trotzdem lässt die Kulturwelt sich nicht einschüchtern und fährt auf mit hochkarätigen Ideen, Plänen und Vorhaben. Gerade in diesen Tagen hat der Prix-Goncourt-Preisträger Michel Houellebecq seinen neuen Roman vorgelegt.

"Vernichten" - ein Titel, der mit seiner gesamten semantischen Wortgewalt schon aussagekräftig genug sein könnte: "Vernichten" ist mindestens so bedeutungsschwer wie "Unterwerfung". Schon im Vorfeld war die Kulturwelt, waren Redaktionen im Feuilleton elektrisiert. Selbstbewusst wurden Sperrfristen unterboten - selber schuld, wer sich trotzdem dran gehalten hat. Houellebecqs Romane skandalisieren, über sie wird gestritten, heiß und heftig debattiert. Messerscharf geht der Prix-Goncourt-Preisträger in die Gesellschaftsanalyse, visioniert, utopisiert, malt die Zukunft aus, wie sie womöglich nie sein wird und doch möglich sein könnte.

Literaturjahr 2022: Fulminanter Start

Das Jahr, das Literaturjahr 2022 ist also mit einer Literaturfanfare gestartet, mit einem Titel, der aufregt, der den Blutdruck hochpeitscht und dann doch gnädig beruhigt. Denn "Vernichten" ist anders als die früheren Bücher von Houellebecq. Es ist durchaus auch ein verhältnismäßig leises Buch, ein sinnsuchendes Buch, garniert mit Esoterik, Yoga, Magie, Meditation, Mythologie. Lauter wird es, wenn subtile Ernährungskriege gekämpft werden, die zu penibel getrennten Kühlschrankfächern führen - vegan, nicht vegan - und schließlich in getrennten Schlafzimmern enden.

Wenn Houellebecq in seinen Texten den Blick immer auch in die Zukunft richtet, tut er dies nie, ohne die Deutung aus den Konfliktlinien der Vergangenheit zu sehen. Im Zentrum der ganzen Suche: das große Glück. Wie lässt sich danach greifen? Indem wir unser Leben ändern? Anders essen, gesünder? Anders wohnen und leben? Kurz: neue Fragen stellen?

Veränderung liegt in der Luft

Das Gefühl der Veränderung liegt in der Kultur-Luft. Neues beginnt notwendig auch mit der Rückbesinnung auf das Alte. Die Berlinale etwa will das Filmfest mit einer Fassbinder-Hommage von François Ozon eröffnen. "Die bitteren Tränen der Petra von Kant" heißt Fassbinders Meisterwerk. Der Film, 50 Jahre alt, zeigt: Lieben sind möglich - so modern, progressiv, queer wie heute oftmals (noch) nicht. Ozons filmische Neuinterpretation soll Leichtigkeit, Schwung in das dunstige Corona-Grau bringen. Dazu werden alle schauspielerischen Register gezogen mit Isabelle Adjani oder Hanna Schygulla.

Soweit die Literatur, soweit der Film. Die bildende Kunst ist in diesen Zeiten nicht weniger mutig: "Wie werden wir künftig miteinander leben?", fragte die Architekturbiennale 2021 in Venedig. Die documenta in Kassel will in diesem Jahr einige Antworten dazu liefern, wenn nicht mehr die Werke einzelner Künstler im Vordergrund stehen, sondern die Arbeiten von Kollektiven, wenn Kunst im Prozess gedacht, nachhaltig gestaltet und das Kunstverständnis einmal mehr grundsätzlich radikal auf den Kopf gestellt wird. Miteinander Zeit verbringen, reden über Auffassungen und Blickrichtungen - mit dieser Haltung wird die documenta im Sommer mit dem indonesischen Kuratoren-Kollektiv ruangrupa an den Start gehen.

Der Pandemie zum Trotz: Lichtblicke

Und Venedig? Maria Eichhorn wird dort auf der Biennale erwartet und den deutschen Pavillon gestalten. Eine Künstlerin, die die Kraft ihrer Arbeiten auch aus der Vergangenheit zieht und in der Gegenwart neu ausdeutet. Sie wird also den Ort, den Pavillon gestalten, den einst Hoheitsadler und Hakenkreuze dominierten. Für jede Künstlerin, jeden Künstler eine komplexe, herausfordernde Aufgabe. Wie also plant Maria Eichhorn? Was hat sie vor in Venedig? Wie wird sie mit dem geschichtsträchtigen Gemäuer umgehen? Schon der Konzeptkünstler Hans Haacke brach effektsicher für seine Installation "Germania" 1993 den Travertinboden des Pavillons auf. Von Maria Eichhorn weiß man, dass sie Vorgängerarbeiten erspürt und auf sich wirken lässt.

Es wird spannend im Jahr 2022. Nicht wenige sind entschlossen, der Pandemie zu trotzen. Lichtblicke im grauen Virennebel.

Weitere Informationen
Ulrich Kühn, Claudia Christophersen und Alexander Solloch. © NDR Foto: Christian Spielmann

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Unsere Kolumnisten lassen die Woche mit ihren Kulturthemen Revue passieren und erzählen, was sie aufgeregt hat. Persönlich, kritisch und gern auch mit ein wenig Bösartigkeit gespickt. mehr

Dieses Thema im Programm:

NDR Kultur | NachGedacht | 14.01.2022 | 10:20 Uhr

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