NDR Kultur Literaturredakteur Alexander Solloch vor einer Backsteinwand. © NDR Foto: Manuel Gehrke
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AUDIO: Das große Malheur (4 Min)

Nachgedacht: Das große Malheur

Stand: 20.01.2023 00:00 Uhr

Neue Zahlen aus dem Schulleben machen Alexander Solloch betrübt. Man könnte sagen: "Il est triste" - wenn man es denn könnte.

von Alexander Solloch

Le cœur a ses raisons que la raison ne connaît point - am Ende läuft wohl sowieso alles auf diese Weisheit von Blaise Pascal hinaus, die sich in ihrer tänzelnden Wortverspieltheit nur kümmerlich ins Deutsche übertragen lässt, etwa so: "Das Herz hat seine Gründe, die der Kopf schlicht nicht begreift." Vielleicht sind sie damit schon entschuldigt, all die Lehrerinnen und Lehrer, Schülerinnen und Schüler, Mütter und Väter, die zu dieser unschönen Nachricht beitragen: An allgemeinbildenden Schulen in Deutschland wird immer weniger Französisch gelehrt und gelernt. Wie das Statistische Bundesamt in dieser Woche mitteilte, lernen nur noch 15 Prozent der Schülerinnen und Schüler die Sprache von Georges Brassens, Fanny Ardant und Leïla Slimani. Quel malheur!

Französisch ist nicht überall ein Pflichtfach - schade!

Französisch ist - jedenfalls in den Bundesländern, die nicht an Frankreich grenzen - kein Pflichtfach, es wird gewählt oder eben nicht, und wenn nicht, dann ja vielleicht tatsächlich aus Gründen, die dem Kopf unverständlich sind und im Herzen wurzeln. Wahrscheinlicher ist das genaue Gegenteil: Mit Verweis auf angebliche Erkenntnisse des Kopfes werden die Begierden des Herzens unterdrückt. Da wird dann gesagt: "Französisch, papperlapapp, wofür brauch' ich das denn, es gibt doch weltweit nur 80 Millionen Muttersprachler, aber zweieinhalb Milliarden Handynutzer, da lern' ich lieber was mit Programmieren", ja, so wird es sein, anders als mit derart kaltem Kalkül ist überhaupt nicht zu erklären, dass 85 Prozent der jungen Menschen sich ohne Not der größten Freude der Welt berauben, die unter anderem darin besteht, nicht immer "papperlapapp" zu sagen, sondern auch mal turlututu.

Weil dies keine Sonntagsrede ist, fehlt hier der Hinweis auf die Bedeutung des gegenseitigen Spracherwerbs für gute Nachbarschaft. Natürlich wäre es hübsch gewesen, wenn das Statistische Bundesamt zum 60. Jahrestag des deutsch-französischen Freundschaftsvertrags am 22. Januar andere Zahlen hätte vorlegen können; aber das eine hat mit dem anderen nicht sehr viel zu tun. Man muss nicht Lieder von Gainsbourg, Brel oder den Têtes Raides trällern können, um ein glaubwürdiger Streiter für immerwährenden Frieden und ewige Freundschaft mit unserem Nachbarn zu sein. Es ist nur ganz individuell schade, wenn man sich diesen einfachen Weg zum grand plaisir verbaut.

Französisch ist gar nicht so schwer

Wer berät eigentlich die jungen Menschen vor ihren dramatischen Fehlentscheidungen? Sagt ihnen irgendjemand, dass Französisch nicht nur schön klingt, sondern auch viel leichter zu lernen ist, als es alle üblen Gerüchte behaupten? Dass es nur ein bisschen Verliebtheit braucht (die ganz schnell entsteht nach ein paar Tagen Aufenthalt in einer Gastfamilie, den zu organisieren sich hoffentlich jede Schule in Deutschland zur Ehrensache macht), nur ein bisschen Verliebtheit in Landschaft, Melodie und Menschen, und schon setzen sich alle Vokabeln, Zeitformen und Satzbaumöglichkeiten ganz allein in Kopf und Herz - sagt ihnen das keiner? Und sagt ihnen auch keiner, dass Französisch-Unterricht die offizielle Lizenz zum Vulgären bedeutet? Gäbe es Vulgär-Mathe, Vulgär-Geschichte und Vulgär-Sport - die Schülerinnen und Schüler wären mit Begeisterung dabei. Gibt es aber nicht. Hingegen gibt es, wählbar für jeden und jede, Vulgär-Latein. Darum handelt es sich beim Französischen nämlich sprachgeschichtlich gesehen. Es ist so klar und logisch wie das Lateinische, aber zugleich verspielter und anarchischer.

Und übrigens, wer jetzt denkt, naja, in der boulangerie in Paris une baguette zu erbitten, das krieg' ich schon noch hin, ohne sieben Jahre Französisch gelernt zu haben, der täusche sich nicht! Seit der Erfindung des Glutens ist unbedingt damit zu rechnen, dass einem das Verkaufspersonal avoine, millet, épeautre und vielfältigste andere Getreidevokabeln an den Kopf wirft.

Außerdem: Wer spricht denn hier von "sieben Jahren" Französisch? Wir alle haben ein Recht auf lebenslanges Glück, auf die Glücksverkettung von Herz und Kopf. Le cœur a ses raisons que la raison comprend très bien. 

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Dieses Thema im Programm:

NDR Kultur | NachGedacht | 20.01.2023 | 10:20 Uhr

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