Christiane Peitz © IMAGO / APP-Photo
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AUDIO: Kühle Säle, hitzige Debatten - Kultur und Künste im Krisenmodus (10 Min)

Kühle Säle, hitzige Debatten - Kultur und Künste im Krisenmodus

Stand: 15.10.2022 06:00 Uhr

von Christiane Peitz

Hat die Kunst eine Aufgabe?

"Care, Repair, Heal" heißt eine aktuelle Ausstellung im Berliner Gropius Bau, die sich mit Gesundheit, indigenen Wissenssystemen und gerechter Landnutzung befasst. Sich sorgen, heilen, reparieren, ist das die Aufgabe der Kunst? Hat sie überhaupt eine Aufgabe, ist sie nicht das Gegenteil von Zweckdienlichkeit, nähert sich vielmehr dem Heillosen, all den Unberechenbarkeiten, Dilemmata und Ängsten, die uns umtreiben? Im Obergeschoss des Museums ist noch wenige Tage eine große Schau mit den textilen Arbeiten von Louise Bourgeois zu sehen. Auch sie verschrieb sich mit ihrem Werk dem Reparieren und Flicken, den Verwundungen des Menschen und ihrer Heilung. Aber dem Geheimnis unserer so brutalen wie verletzlichen Spezies kommt sie weit mehr bei als der Themen-Parcours im Erdgeschoss.  

Kühle Säle, hitzige Debatten: Im Krisenmodus kann die Kultur Energie sparen und uns gleichzeitig Energie zuführen. Das konnte sie schon immer, nur eben nicht so vordergründig. Als Ort der Tiefenschürfungen, an dem die Verwerfungen der Gegenwart differenzierter reflektiert werden als in den Tagesnachrichten, von Putins Angriffskrieg bis zur individuellen Existenznot. Wer bin ich, wer sind wir, herausgeschleudert aus der Komfortzone der westlichen Welt, zerrissen zwischen Selbsterhaltungstrieb und Empathie für jene, denen es schlechter geht?

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Die Kunst ist für das Publikum da - nicht umgekehrt

Das Publikum hält sich derzeit zurück. Die Gründe dafür sind komplex: Die Infektionsgefahr ist nicht gebannt, und der Terminstau will nicht nur in der Kultur, sondern auch im Privatleben, im Familien- und Freundeskreis abgebaut werden. Nun kommen Geldsorgen hinzu. Kann ich mir den Konzertbesuch überhaupt noch leisten, wenn die Stromrechnung so hoch ist und die Butter so teuer? Der Mensch ist ein Gewohnheitstier, viele haben in der Pandemie zum Beispiel entdeckt, wie praktisch das Streamen ist. Deshalb darben jetzt besonders die Kinos, sie verzeichneten im ersten Halbjahr einen Besucherrückgang um 38 Prozent im Vergleich zur letzten Saison vor Corona. Die Hassliebe zum ach so bequemen häuslichen Sofa kursiert, ebenso der Hashtag #Publikumsschwund an den Bühnen.

Auch wenn die Kultur unter Long Covid und den sich stapelnden Krisen leidet, sie ist für das Publikum da, nicht umgekehrt. Sie sollte ihm gerade jetzt entgegenkommen, indem sie sich nicht kleinmacht und sich nicht auf angesagte Themen und Bekenntnisse beschränkt. Beim Filmfest Venedig gewann ein Dokumentarfilm über den erfolgreichen Kampf der Künstlerin Nan Goldin gegen die Opioid-Pharmaindustrie den Goldenen Löwen: "All the Beauty and the Bloodshed" von Laura Poitras. Ein Preis für großartiges Engagement - aber die vielfach vertretene Filmkunst, die Fantasie der Fiktion hatte das Nachsehen.

Du bist nicht allein mit deinen Ängsten, das ist das zentrale Angebot der Kultur. Das Gemeinschaftsversprechen der Künste muss nur deutlicher formuliert werden in diesen Tagen, dann werden die Säle womöglich auch wieder voller - und damit auch wärmer. Wenn die Schwelle wegen all der Sorgen höher geworden ist, kann sie anderweitig ganz pragmatisch abgebaut werden. Mit Programmen für alle Generationen, für Mehrheiten wie Minderheiten. Mit direkter Publikumsansprache, (auch über die in der Pandemie entwickelten hybriden Formate). Und mit attraktiven Ticket-Angeboten.

Wer nichts riskiert, verliert noch mehr Besucher

Das Staatstheater Hannover probiert noch bis Ende des Monats ein "Bring your friends"-Modell aus: Zu jedem Vollpreis-Ticket können bis zu fünf Billigkarten für je fünf Euro erworben werden. Solche Ideen nach dem Nahverkehrs-Prinzip des Neun-Euro-Tickets kann es gar nicht genug geben. Es darf nicht sein, dass die in der Corona-Zwangspause entwickelte Selbstbesinnung samt Reformbemühungen der Branche wieder dem Alltagstrott weichen. Wer nichts riskiert und nur nivelliert, verliert auf die Dauer noch mehr Besucher.

Wenn die Kultur sich in diesem Sinne auf dem Weg macht, braucht sie in der Tat die Unterstützung der Politik. Dann gehört nicht nur das schützenswerte Kulturgut in den Sammlungen und Archiven zur kritischen Infrastruktur - wie es bereits offiziell verfügt ist. Sondern ebenso die vielfältige Bühnen-, Musik- und Museumslandschaft. Und dann müssen den Appellen zur Rettung der Kulturnation Deutschland mehr Maßnahmen folgen als nur die Umwidmung eines Sonderfonds.

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Dieses Thema im Programm:

NDR Kultur | Gedanken zur Zeit | 15.10.2022 | 13:05 Uhr

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