Canan Topcu in der ZDF-Talksendung "Maybrit Illner" © picture alliance / Karlheinz Schindler/dpa-Zentralbild/ZB Foto: Karlheinz Schindler
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AUDIO: Kein Grund zur Freude: Muslimische Autorin blickt auf 2023 zurück (5 Min)

Kein Grund zur Freude: Muslimische Autorin blickt auf 2023 zurück

Stand: 29.12.2023 06:00 Uhr

Das Jahr 2023 geht zu Ende. Ein Jahr voller Krisen, Kriege und Katastrophen. Auch die muslimische Community in Deutschland hat kein leichtes Jahr hinter sich. Ein Rückblick der muslimischen Autorin Canan Topçu

von Canan Topçu

Ich will ehrlich sein: Mir fällt beim Nachdenken über das Jahr 2023 kaum etwas Gutes ein.

Das liegt auch daran, dass meine Sinne getrübt sind - getrübt durch den Terror der islamistischen Hamas und das Massaker vom 7. Oktober. Und es liegt wohl auch an Reaktionen hierzulande darauf. Anfangs schwiegen Islamverbände wie etwa DITIB und der Zentralrat der Muslime; auch andere muslimische Gruppen und prominente Personen taten sich schwer damit, sich entschieden und klar von dem Verbrechen der Terrortruppe zu distanzieren. Erst nach harscher öffentlicher Kritik folgten Solidaritätsbekundungen - und diese klangen häufig auch noch halbherzig und unaufrichtig.

Statt Solidarität mit Juden zu bekunden, verteilten Islamisten in Berlin freudig Baklava, skandierten antisemitische Parolen auf Kundgebungen in Hamburg, Frankfurt und andernorts. Damit nicht genug: Bärtige Männer und mit Schleiern verhüllte Frauen forderten auf öffentlichen Plätzen mit Allahu-Akbar-Rufen ("Gott ist groß") das Kalifat in Deutschland.

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Rechtschaffene Muslime haben einen schweren Stand

Das sind - leider - die Ereignisse, die in meinem Gedächtnis haften geblieben sind von diesem Jahr. Und das finde ich gruselig! Wenn ich als Muslima schon so denke, wie mag es dann wohl Menschen ergehen, die keine Muslime sind oder zu Menschen muslimischen Glaubens kaum persönliche Kontakte pflegen?

Wenn in den Nachrichten vor allem der islamistische Terror und abscheuliche Aktionen der Hardcore-Muslime dominieren, haben rechtschaffene Muslime einen schweren Stand. Um sie nicht vorschnell und einfach gleichzusetzen mit denen, die die Demokratie ablehnen und gewalttätig sind, braucht es die Fähigkeit zum Differenzieren und den Willen dazu! Man muss es sich tagtäglich vornehmen, nicht alle Muslime in einen Topf zu werfen. Auch wenn das manchmal sehr schwerfällt.

Was bitte soll man denn auch denken, wenn der türkische Staatspräsident Erdogan die Terrororganisation Hamas als "Widerstandsbewegung" bezeichnet? Und was, wenn der oberste Chef der türkischen Religionsbehörde Diyanet, deren İmame in Deutschland predigen, sich ungehemmt antisemitisch äußert? Israel sei der "rostige Dolch im Herzen der muslimischen Welt", erklärte der Diyanet-Vorsitzende Ali Erbaş allen Ernstes.

Sollten sich Muslime stets positionieren?

Diejenigen, die angeblich im Namen Allahs Gewalt verherrlichen und aktiv Gewalt ausüben, sind verantwortlich für das negative Image von Muslimen. Aber sind nur sie es? Haben nicht auch die rechtschaffenen und friedvollen Muslime eine Verantwortung? Über diese Frage ist im zu Ende gehenden Jahr viel diskutiert worden - öffentlich und auch in meinem privaten Umfeld. Sollten sich Muslime stets zum Terror der islamistischen Hamas positionieren? Die Muslime, die das ablehnen, argumentieren so: Wir haben mit dem Terror nichts zu tun! Warum sollten wir uns also davon distanzieren? Viele aus dieser Gruppe weisen hingegen entschiedener auf den wachsenden "antimuslimischen Rassismus" hin. Ich denke anders: Die klare Verurteilung islamistisch motivierter Morde und Verbrechen ist wichtig, um ein Zeichen zu setzen - adressiert an all diejenigen, die Muslime pauschal mit Gewalttätern gleichsetzen.

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Yazid Shammout, Vorsitzender der palästinensischen Gemeinde in Hannover und Michael Fürst, Vorsitzender des Landesverbandes der Jüdischen Gemeinden von Niedersachsen, sprechen während einer Pressekonferenz im Neuen Rathaus in Hannover zum gemeinsamen Appell gegen Terror, Antisemitismus und Gewalt. © picture alliance/dpa | Ole Spata Foto: Ole Spata

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Vermeintlich gute Nachricht zum Jahresende?

Das Jahr endet aus muslimischer Perspektive vielleicht mit einer guten Nachricht - das könnte man zumindest meinen. Denn das Bundesinnenministerium einigte sich mit der türkischen Religionsbehörde Diyanet darauf, dass das Entsenden von "staatlich bediensteten Religionsbeauftragten" aus der Türkei nach Deutschland schrittweise eingestellt wird. Beim genauen Prüfen dieser Vereinbarung zeigt sich jedoch: Es handelt sich um alten Wein in neuen Schläuchen. Denn die theologische Ausbildung von Imamen, die langfristig in allen rund 1.000 DITIB-Moscheegemeinden arbeiten sollen, wird in Deutschland unter der Fachaufsicht der DITIB stattfinden. Der Moscheeverein DITIB ist zwar ein nach deutschem Recht eingetragener Verein. Wer sich aber in den Strukturen dieses Islamverbandes auskennt, weiß, dass die Strippen nach wie vor in Ankara gezogen werden. Also doch keine so gute Nachricht, mit der 2023 endet. Inschallah, hoffentlich ist das kein schlechtes Omen für das neue Jahr!

Anmerkung der Redaktion: Liebe Leserin, lieber Leser, die Trennung von Meinung und Information ist uns besonders wichtig. Meinungsbeiträge wie dieser Rückblick geben die persönliche Sicht der Autorin / des Autors wieder. Kommentare können und sollen eine klare Position beziehen. Sie können Zustimmung oder Widerspruch auslösen und auf diese Weise zur Diskussion anregen. Damit unterscheiden sich Kommentare bewusst von Berichten, die über einen Sachverhalt informieren und unterschiedliche Blickwinkel möglichst ausgewogen darstellen sollen.

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Die Kuppel des Felsendoms in Jerusalem © NDR

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Dieses Thema im Programm:

NDR Kultur | Freitagsforum | 29.12.2023 | 15:20 Uhr

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Der Arm einer Frau bedient einen Laptop, der auf einem Tisch in einem Garten steht, während die andere Hand einen Becher hält. © picture alliance / Westend61 | Svetlana Karner

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