Stand: 12.07.2018 16:23 Uhr

"Die Kopftuch-Debatte lässt nur Opfer zurück!"

Fereshta Ludin wollte einfach nur Lehrerin werden. Sie schloss erfolgreich ihr Referendariat an einer staatlichen Schule ab. In den Schuldienst jedoch wurde die Muslimin nicht übernommen am 13.Juli 1998. Weil sie ein Kopftuch trug. Bis heute sorgt das Kopftuch bundesweit für Konfliktstoff. 

Ein Kommentar von Lamya Kaddor

Vor genau 20 Jahren fiel der Startschuss für eine leidige Debatte, die ich aus lauter Frust nur noch als K-Frage bezeichnen mag. Weil Fereshta Ludin, eine junge Frau islamischen Glaubens und damals angehende Lehrerin ihr Kopftuch im Unterricht nicht abnehmen will, wird sie nicht in den öffentlichen Schuldienst von Baden-Württemberg übernommen und zieht bis vor das Bundesverfassungsgericht.

Seitdem begleitet uns nicht nur die Frage, ob Musliminnen als Lehrerinnen mit einem Kopftuch arbeiten dürfen. Aus dem Streit wurden gleich mehrere Nebenschauplätze entwickelt - zum Beispiel zum Thema "Kopftuch als Zeichen von Unterdrückung", dicht gefolgt vom "Kopftuch als Zeichen von politischer Haltung". Und anno 2018 diskutieren wir über Kopftuchverbote für Mädchen unter 14 Jahren. Scheinbar ohne Unterlass streiten wir juristisch, politisch, gesellschaftlich, theologisch über das, was Frauen auf dem Kopf haben, statt uns darauf zu konzentrieren, was sie im Kopf haben.

Über die Autorin

Lamya Kaddor ist Islamwissenschaftlerin, Islamische Religionspädagogin und Autorin zahlreicher Bücher. Die Deutsche mit syrischen Wurzeln zählt zu den wichtigsten muslimischen Stimmen unseres Landes. Kaddor bezeichnet sich selbst als "Verfassungspatriotin" und ist Gründungsvorsitzende des Liberal-Islamischen Bundes. Seit Dezember 2015 leitet sie u.a. das Projekt "extrem out - Empowerment statt Antisemitismus", gefördert vom Bundesamt für Migration und Flüchtlinge. Aktuelles Buch zum Thema: "Die Zerreissprobe. Wie die Angst vor dem Fremden unsere Demokratie bedroht" (Rowohlt Berlin, 2016).

Die Debatte hat uns in einen Kulturkampf gestürzt

Und haben uns diese Diskussionen wenigsten vorangebracht? Leider ganz im Gegenteil. Sie haben uns in einen Kulturkampf gestürzt, der nur Opfer zurücklässt. Musliminnen mit einem Kopftuch sind für manche die Parias des 21. Jahrhunderts geworden. Umgekehrt: Wer das Kopftuch als diskriminierend ablehnt, wird von einigen als islamfeindlich, von anderen als ungläubig gebrandmarkt.

Die Feindseligkeiten gehen inzwischen so weit, dass selbst jungen Mädchen mitunter brutal das Kopftuch samt Haarbüscheln heruntergerissen wird - so geschehen in Osnabrück im April - oder Frauen ohne Kopftuch von Fundamentalisten und Islamisten bedrängt und bedroht werden. Vor allem Männer tun sich in dieser Angelegenheit hervor, um mit bevormundendem und patriarchalem Gestus über die Bedeutung des Kopftuchs zu dozieren. Dabei geht es ihnen um vieles, nur oft nicht um die betroffenen Frauen. Aber auch eine Reihe Feministinnen der ersten Generation surfte auf dem Kopftuch an die Front der öffentlichen Debatten und machten dort Stimmung gegen eine Religion, die sie pauschal als rückständig, frauenfeindlich und gewaltbereit verurteilten.

Fereshta Ludin sitzt im Bundesverfassungsgericht mit Kopftuch, im Hintergrund sind Richter in roten Roben zu sehen. © dpa - Bildfunk Foto: Uli Deck
Die Lehrerin Fereshta Ludin ging vor Gericht und wurde zur Symbolfigur des sogenannten Kopftuchstreits.
Man kann nicht Kopftücher verbieten und andere Symbole gestatten

Wir haben in Deutschland eine grundgesetzlich garantierte Religionsfreiheit. Sie ist ein wichtiges Element unserer Verfassung, denn sie ist eine der Lehren aus der jüngeren deutschen Geschichte. Jede religionsmündige Frau entscheidet selbst, ob sie privat ein Kopftuch trägt oder nicht. Das geht niemanden etwas an.                     

Im öffentlichen Raum mag man da zu einer anderen Beurteilung kommen. Eine Richterin mit einem Kopftuch etwa kann ebenso irritierend wirken wie ein Gerichtssaal, in dem ein christliches Kreuz hängt. Auch in der Schule mag man zu dem Schluss kommen, Lehrer müssen absolut neutral sein. Nur eines geht dann nicht: einseitig Kopftücher verbieten und Kreuz, Habit, Kippa oder andere religiöse Symbole gestatten. Denn das ist eindeutig und offenkundig pure Diskriminierung. Wer dagegen mit der christlichen Prägung des Landes argumentiert, hat weder das Grundgesetz verstanden, das dem Staat Neutralität gebietet, noch ist er in der pluralistischen Realität des 21. Jahrhunderts angekommen. Das hat das Bundesverfassungsgericht 2015 mit seinem zweiten Kopftuchurteil bekräftigt. Seitdem herrschen unterschiedliche Regelungen. Während Berlin alle religiös geprägten Kleidungsstücke weiterhin verbietet, stehen heute in Niedersachsen oder Baden-Württemberg vereinzelt Lehrerinnen mit einem Kopftuch vor ihren Klassen.

Mehr Vertrauen und weniger Paternalismus

Deutsche Schüler sind clever und selbstbewusst genug, um sich vom Äußeren einer Lehrkraft nicht beeinflussen zu lassen. Mir ist kein einziger Fall bekannt, in dem ein Mensch durch den bloßen Anblick einer Frau mit einem Kopftuch zum Islam konvertiert ist. Unser Kulturkampf könnte mithin rasch abgeblasen werden, hätten wir nur ein bisschen mehr Vertrauen in unsere Mitmenschen und würden wir unseren Paternalismus bleiben lassen. Wir sind ein freies Land. Also lasst uns auch frei sein.

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Dieses Thema im Programm:

NDR Kultur | Freitagsforum | 13.07.2018 | 15:20 Uhr

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Der Arm einer Frau bedient einen Laptop, der auf einem Tisch in einem Garten steht, während die andere Hand einen Becher hält. © picture alliance / Westend61 | Svetlana Karner

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