Leonard Scheicher in "Der vermessene Mensch" © Studiocanal

"Der vermessene Mensch": Dunkles Kapitel deutscher Kolonialgeschichte

Stand: 06.04.2023 19:16 Uhr

Im Historiendrama von Lars Kraume geht es um einen ehrgeizigen Ethnologie-Doktoranden während des Herero-Aufstandes in der damaligen Kolonie Deutsch-Südwestafrika, dem heutigen Namibia.

von Bettina Peulecke

Das Drama läuft erfolgreich seit Ende März im Kino - und liegt an Platz zwei der Programmkinocharts - hinter "Tár" von Todd Field. "Der vermessene Mensch" birgt eine brillante Doppeldeutigkeit. "Der Titel besagt, dass es einerseits um diese Schädelvermessung geht, um diese Phrenologen, die glauben, damit Rassenforschung belegen oder betreiben zu können", sagt der Regisseur Lars Kraume. "Andererseits um diese anmaßende Persönlichkeit, die im Zentrum dieser Geschichte steht: jemand, der sich anmaßt Dinge zu tun, die er ablehnen müsste."

Wie Zootiere vorgeführt

Die Geschichte beginnt in Berlin: Für die Deutsche Kolonialausstellung reist eine Delegation der Herero und Nama aus der Kolonie Deutsch-Südwestafrika an. Sie hoffen, mit dem Kaiser über ihre Lage sprechen zu können - schließlich will man ihnen ihr Land wegnehmen. Stattdessen werden sie einem sensationshungrigen Publikum wie Zootiere vorgeführt und von Wissenschaftlern wie dem Ethnologieprofessor von Waldstätten sowie seinen Studenten untersucht und vermessen.

"Wie Sie sehen ist der Kopf des Weißen Mannes doch beträchtlich größer, als dieser hier: Der Kopf eines San, auch Buschmann genannt." Filmszene

Der Doktorand Alexander Hoffmann, dargestellt von dem deutschen Shooting Star Leonard Scheicher, steht der gängigen Theorie, dass Schwarze Menschen intellektuell unterlegen sind, skeptisch gegenüber. Zumal das Objekt seiner wissenschaftlichen Vermessungen die Dolmetscherin Kezia Kambazembi ist, die stolze Dolmetscherin der Herero.

"Frau Kambazembi zeigt erstaunliche Fähigkeiten. Und ich behaupte, dass ihr ein höherer Bildungsgrad nur durch äußere Umstände versagt blieb, nicht durch genetische Veranlagung." Filmszene

Freunde macht Hoffmann sich damit nicht an der Fakultät.

Protagonist Alexander Hoffmann: Eine ambivalente Figur

Leonard Scheicher in "Der vermessene Mensch" © Studiocanal
Alexander Hoffmann (Leonard Scheicher) entwickelt ein intensives Interesse an den Herero und Nama - und überschreitet zunehmend moralische Grenzen.

Als es kurz darauf in der Kolonie zum Krieg der Besatzer mit den Herero und Nama kommt, reist der Ethnologe im Schutz der Armee durchs Land, um Artefakte für das Berliner Völkerkundemuseum zu sammeln und Kezia zu suchen, die in ihre Heimat zurückgekehrt ist. Als er einwilligt, im Namen der Wissenschaft Schädel von toten Herero an seine Universität zu schicken, überschreitet er moralische Grenzen.

Hoffmann ist eine ambivalente Figur. Zu Beginn des Films taugt er durch Empathievermögen und eine humanistisches Weltbild noch als Sympathieträger. Am Ende ist auch er nur ein weiteres sich unterordnendes Glied in der Kette eines Systems, das menschenverachtend Gräueltaten verübt.

"Der vermessene Mensch": Schonungsloser Blick auf den Völkermord

Lars Kraumes Filme wie "Der Staat gegen Fritz Bauer" oder "Das schweigende Klassenzimmer" beschäftigen sich mit deutscher Geschichte und sind immer politisch, werfen immer Fragen auf. Hier zeigt der Regisseur schonungslos den Völkermord, der zwischen 1904 und 1908 in der Kolonie stattfand.

Regisseur Lars Kraume mit einem Teil der Schauspielerinnen und Schauspieler zu seinem Kolonialismusdrama "Der vermessene Mensch" © Jens Kalaene/dpa +++ dpa-Bildfunk ++ Foto: Jens Kalaene
Das Filmteam feierte Weltpremiere bei der Berlinale.

Die namibische Schauspielerin, Drehbuchautorin und Filmproduzentin Girley Jazama spielt in "Der vermessene Mensch" die Rolle der Kezia. Sie rechnet es Lars Kraume hoch an, dass er die Herero und Nama respekt- und würdevoll darstellt, und nichts beschönigt.

Regisseur Lars Kraume hofft auf Diskussionen

Die Frage der Perspektive war nicht einfach. Angesichts der in den vergangenen Jahren geführten Diskussion um die Rückgabe von tausenden Totenköpfen, die aus Afrika den Weg in deutsche Museen gefunden haben, war für den Regisseur die Sichtweise des Ethnologen besonders naheliegend: "Wer den Film gesehen hat, ist auf jeden Fall sehr emotionalisiert. Eine Sache, die der Film hoffentlich kann, ist, dass die Leute danach darüber diskutieren, was sie alles nicht wussten, was an dem Film wahr und vielleicht falsch ist, was man wie hätte anders darstellen müssen heutzutage. Das sind alles willkommene Diskussionen, die nur dazu führen, dass wir über eine verdrängte Schuld in unserer Gesellschaft reden."

Der vermessene Mensch

Genre:
Geschichtsdrama
Produktionsjahr:
2021
Produktionsland:
Namibia | Deutschland
Zusatzinfo:
Mit Leonard Scheicher, Sven Schelker, Girley Charlene Jazama, Peter Simonischek u.a.
Regie:
Lars Kraume
Länge:
116 Minuten
FSK:
ab 12 Jahre
Kinostart:
ab 23. März 2023

Dieses Thema im Programm:

NDR Info | Kultur | 22.03.2023 | 07:55 Uhr

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