"Brüste und Eier" im Thalia Theater: Wer fragt die Ungeborenen?
Uraufführung im Hamburger Thalia Theater: Regisseur Christopher Rüping hat mit einer Bühnenfassung des gefeierten Romans "Brüste und Eier" von Mieko Kawakami den zweiten Teil seiner großen Familientrilogie inszeniert.
Einer der bekanntesten Theaterregisseure im deutschsprachigen Raum, Christopher Rüping, hat den zweiten Teil seiner großen Familientrilogie inszeniert. Dafür hat er selbst eine Bühnenfassung des gefeierten Romans "Brüste und Eier" von Mieko Kawakami geschrieben.
Christopher Rüping eröffnet im Thalia Theater Diskursräume
Eine Frau bekommt ein Kind. Mitten auf der leeren Bühne steht Maike Knirsch in Sandalen und schwarzem Kleid, jede Sehne gespannt, sie blickt ins Publikum, die Tränen laufen über ihre Wangen. Man spürt förmlich die Emotion, den Schmerz. Eine Geburt, aber nur in Worten: "Im selben Moment hörte ich einen Schrei!" Es ist ein Anfang. Und gleichzeitig ist es das Ende eines sensationellen Theaterabends.
Viele im Publikum sind begeistert. Ein Zuschauer findet das Stück exzellent, vor allem, dass hier ganz normale, selbstverständliche Dinge infrage gestellt werden. Im Zentrum steht nämlich die Frage, die Maike Knirsch am Anfang direkt ans Publikum richtet: "Und jetzt nochmal alle die Hand heben, die Kinder haben und die welche wollen - Frage: warum?" Das Publikum lacht. Welchen Sinn hat es, ein Kind in diese Welt der Katastrophen und Kriege zu setzen? Regisseur Christopher Rüping hat aus dem japanischen Roman "Brüste und Eier" einen Abend der offenen Form geschaffen, einen Diskursraum eröffnet, der gleichzeitig so spielerisch und sinnlich ist, dass es einen packt und manchmal sogar überwältigt.
Im Zentrum steht Natsuko, eine junge Frau in Tokio, die Schriftstellerin werden will. Zu Besuch ist ihre ältere Schwester Makiko, die als Hostess, irgendwas zwischen Prostituierter und Servicekraft, mehr oder weniger über die Runden kommt und sich jetzt ihre Brüste vergrößern lassen will. Und Makikos tief verstörte Tochter Midoriko. Mit zwölf Jahren ist sie eine Art "Manga-Mädchen". Sie spricht nur, indem sie in ihr Tagebuch schreibt: "Selbst schuld, sagte ich, du hast mich schließlich auf die Welt gebracht".
"Brüste und Eier": Welchen Sinn hat es, ein Kind in diese Welt zu setzen?
Unter einer großen Maske aus Pappmaché verbirgt sich Julian Greis, und hinter der Maske der Makiko steckt Hans Löw, zwei lebendige Menschen-Puppen. Großartig, wie sie die Figuren anlegen: der müde Körper Makikos, der trotzig-verstockte der Tochter. Andere Schauspielerinnen und Schauspieler leihen den beiden ihre Stimme, trennen sich von ihnen, setzen sich mit einer Bierdose an den Rand der Bühne. Figuren und Erzählperspektiven vervielfältigen sich.
Während der erste Teil im engen Apartment Natsukos wie ein Sozialdrama über das Selbstverständnis von Frauen wirkt - über Missbrauch und Körper-Optimierung, um Männern besser zu gefallen - führt der zweite Teil ins Innere Natsukos, in ihre Seelenwelt. Jetzt ist die Bühne fast leer, nur ein paar riesige Stoffhasen liegen wie zerrupft in den Bühnenecken. Natsuko fragt sich, ob sie ein Kind möchte und wenn ja, mit oder ohne Vater? Mit Samenspende? Und wenn ja, warum? Und: Wer fragt eigentlich die Ungeborenen?
Der zweite Teil ist ein einziger Gedankenstrom der jungen Frau, zehn Jahre später, in dem sie wieder alle Argumente abwägt. Natsukos Gedanken zerreißt plötzlich eine mitreißende Abba-Performance - wie eine kitschige Sehnsucht nach einem Kind. Hier entsteht ein Möglichkeitsraum, als wäre die Membran zur Welt vor unserer Geburt plötzlich zerrissen. Als wäre jeder und jede einzelne auf der Bühne, neben Maike Knirsch, als wäre das komplette Ensemble, darunter zwei fabelhafte Performerinnen aus Japan, Möglichkeiten der Kinder, die Natsuko bekommen könnte: die erst noch als Eizellen, als Ideen in ihrem Körper warten.
Der Jubel nach diesem dreieinhalbstündigen Theaterrausch ist riesig. "Einer der besten Theaterabende, die ich je gesehen habe", findet ein Zuschauer. Am Ende steht die Entscheidung, ein Kind ins Leben zu bringen. Natsuko blickt ihrem Neugeborenen in die Augen. Eine neue Möglichkeit.