Wer gehört dazu? Wenn Migranten keine Heimat finden

Stand: 06.02.2024 08:58 Uhr

In vielen Städten wird derzeit gegen Rassismus und Rechtsradikalismus demonstriert. Auch Stephan Anpalagan beschäftigt sich intensiv mit diesen Themen. In seinem Buch "Kampf und Sehnsucht in der Mitte der Gesellschaft" plädiert er dafür, Deutschland zu einer besseren Heimat für alle zu machen.

von Claudia Kuhland

Stephan Anpalagan sitzt im Wuppertaler Bahnhof an einem Klavier und spielt die israelische Nationalhymne - sein Statement gegen Antisemitismus, wie er sich auch auf Pro-Palästina-Demos gezeigt hat. Der Mann am Piano ist auch Theologe, Unternehmensberater und Journalist. Er findet: "Wer Angehörige in einem Kriegs-und Krisengebiet hat, der hat mein vollstes Verständnis, wenn er einen Ausdruck dafür sucht. Es gibt aber eine sehr deutliche Trennlinie. Wer nicht in der Lage ist, seinen Schmerz oder seinen Missmut kundzutun, ohne in Judenhass auszubrechen, der muss sich gefallen lassen, dass diese Demonstrationen mit Auflagen versehen werden, oder halt verboten werden." 

"Sehnsucht von Menschen, die so gerne ankommen würden in diesem Land"

Man kann Anpalagan kein mangelndes Verständnis für die Leiden und Nöte von Zugewanderten vorwerfen. Vor 39 Jahren kam er als Kind von Bürgerkriegsflüchtlingen aus Sri Lanka nach Wuppertal. Heute ist er eine wichtige Stimme für alle, die sich danach sehnen, dazu zu gehören: "Die Sehnsucht, die ich beschreibe, ist die Sehnsucht von Menschen, die so gerne ankommen würden in diesem Land: Als Deutsche, als Bürgerinnen und Bürger dieses Staates. Und der Kampf, den man führen muss, leider Gottes, ist ein Kampf um Anerkennung, ist ein Kampf um dabei sein und dazugehörig sein."

In seinem Buch schildert Anpalagan den Kampf und die Sehnsucht, die Ausgrenzung zu überwinden. Zuerst kamen die Italiener seit Mitte der 1950er-Jahre, die ersten sogenannten Gastarbeiter. Sie wurden als "Itaker" und "Messerstecher" diskriminiert. Ähnlich ging es dann den Türken. Auch sie wurden angeworben, waren fleißig. Auch ihnen unterstellte man oft Böses. "Es gibt etwas, was all diese Menschen eint", so Anpalagan. "Immer dann, wenn es politische Krisen gibt, werden sie in eine Bewährungsprobe gestellt. Dann heißt es: Die brauchen wir alle nicht mehr, die sollen jetzt wieder zurück."

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Brandanschlag von Solingen als traumatische Erfahrung 

Eine für viele Zugewanderte in Deutschland traumatische Erfahrung war der Brandanschlag  von Solingen vor 30 Jahren gegen eine türkische Familie. Nur wenige Kilometer vom Haus der Anpalagans entfernt. "Meine Familie und mich hat das sehr getroffen", erinnert sich der Autor. "Wir haben uns gefragt: Ist dieses Land überhaupt sicher für uns? Und zwar nicht, weil man sich nicht integriert hätte, sondern weil irgendeiner der Meinung ist: Die Türken und die Nicht-Weißen dürfen nicht Teil dieser Gesellschaft sein. Das ist ein Gefühl, das sich ganz tief eingegraben hat in den Köpfen und Herzen von vielen Menschen in diesem Land." 

Mit kühlem Kopf und brennendem Herzen schreibt Anpalagan gerne auch provozierende Texte gegen Rassismus oder zur aktuellen Migrationsdebatte. Dabei fordert er Fakten statt Alarmismus: "Es gibt auf der einen Seite die Kommunikation, dass wir keine Menschen mehr nach Deutschland lassen. Auf der anderen Seite wissen wir ganz genau, dass wir ohne diese Menschen, die nach Deutschland kommen, ganz große Probleme hätten, die Oma zu pflegen, die Häuser zu bauen oder Impfstoffe zu erfinden." 

"Wahlkampf-Sprache, die ausgrenzt" 

Mit seinem Buch bestärkt Anpalagan die positiven Aspekte der Migration und zeigt, wie unerquicklich die Debatte darüber ist, wie sie an den Bedürfnissen aller Menschen unseres Landes vorbei geführt wird. "Es fehlt eine Gesamtstrategie", so Anpalagan. "Obendrauf kommt noch eine Form von Wahlkampf-Sprache, die ausgrenzt, die sich eben nicht mit harter, langweiliger, anstrengender politischer Arbeit und Themen wie Infrastruktur, Bildung oder dem Gesundheitssystem auseinandersetzt. Deshalb halte ich diese Debatte, wie sie gerade geführt wird, für unaufrichtig und tatsächlich großen Quatsch." 

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