Nach Tod von Ebrahim Raisi: "Es kann keine Veränderung im System geben"
Der plötzliche Tod des iranischen Präsidenten Ebrahim Raisi werde an der Situation im Land nichts ändern, sagt die deutsch-iranische Journalistin Gilda Sahebi im Gespräch mit NDR Kultur. Das System hänge nicht von einzelnen Personen ab.
Sahebi schreibt unter anderem für die ARD, die "TAZ" und den "Spiegel" über Menschenrechte und die Lage der Frauen im Nahen Osten, speziell im Iran.
Frau Sahebi, wie haben Sie vom Tod Raisis erfahren und was war Ihre erste Reaktion?
Gilda Sahebi: Ich habe von mehreren Freund*innen Links zur Eilmeldung bekommen. Mein erster Gedanke war: "Mist, dass Chamenei nicht da drin saß."
Und der zweite war dann: "Happy World Helicopter Day" - das haben Sie bei Instagram gepostet, um die Freude über den Tod von Raisi auszudrücken. Wie kollektiv ist diese Freude?
Sahebi: Die ist schon sehr kollektiv. Ich hatte das gepostet als einen von vielen Einträgen in den Sozialen Medien. Da haben einige Menschen "Happy World Helicopter Day" ausgerufen und haben Videos mit Helikopter-Musik gemacht und so weiter. Jedes Individuum erlebt das anders. Es gibt zum Beispiel eine Frau, deren fünf Geschwister in den 80er-Jahren ermordet wurden, unter anderem auf Befehl von Ebrahim Raisi. Sie hat ein Video gemacht, wo sie tanzt und sagt: "Jetzt ist wenigstens etwas weniger von diesem Abfall auf der Welt." Das muss man verstehen, weil jeder Mensch eine eigene Geschichte und Erfahrung mit diesem Regime und mit diesem Land gemacht hat. Je nachdem ist die Freude groß, und das finde ich total verständlich.
EU-Ratspräsident Charles Michel, Italiens Ministerpräsidentin Giorgia Meloni und auch der Papst haben eine Kondolenz ausgesprochen - wie finden Sie das?
Sahebi: Da muss ich mich ein bisschen zurückhalten, um diplomatisch zu bleiben: sehr schwierig. Es ist nachgewiesen, dass er für eines der größten Massaker des 20. Jahrhunderts verantwortlich ist. Der Präsident. Ebrahim Raisi saß in diesem vierköpfigen Todeskomitee - er war Vize-Generalstaatsanwalt von Teheran -, und dieses Todeskomitee hat 5.000 Menschen in den Tod geschickt. In den gesamten 80er-Jahren, wo er auch immer irgendwo an einer Stelle des Regimes war, waren es geschätzt 20.000 Menschen. Vor ihm saßen Menschen, politische Gefangene, und eine "falsche" Antwort - zum Beispiel "Betest Du?" und die sagten "Nein" - konnte dazu führen, dass man an den Galgen kommt. Das war Ebrahim Raisi. Und für so jemandem zu kondolieren - das ist schon eine Entscheidung, das ist schon ein Statement.
Trotzdem stören Sie sich in der Berichterstattung der westlichen Medien an dem Begriff "Hardliner" im Zusammenhang mit Raisi. Was stört Sie an diesem Begriff, und was stört Sie an der Berichterstattung allgemein?
Sahebi: Der Begriff stört mich, weil er suggeriert, dass Raisi eine Ausnahme, eine Richtung oder eine Flanke dieses Systems sei. Aber das ganze System der Islamischen Republik ist ein einziges Hardliner-System. Es gibt keine Menschen, die weniger schlimm sind oder schlimmer. Ich habe da das Bild, dass ein Mann seine Frau mit einem Gürtel mit zehn Klingen schlägt - und die Reformer sagen, er solle nur mit neun zuschlagen. Es ist ein System, in dem Menschen systematisch gefoltert, inhaftiert, ermordet werden, wo allen Menschen, aber ganz besonders Frauen, systematisch in den Haftanstalten sexualisierte Gewalt angetan wird. Jede einzelne Person, die bei diesem System mitmacht, trägt die Verbrechen. Und Raisi war einer, der diese Verbrechen ausgeführt hat. Er war ein ganz normaler Teil dieses Systems, er war keine Ausnahme.
Inwieweit gehen Sie davon aus, dass dieses System genauso weitergeht? Der Interimspräsident ist Mohammed Mochber - wie beurteilen Sie diese Personalie?
Sahebi: Die spielt keine Rolle in meinen Augen. Das System hängt nicht von einzelnen Personen ab. Das haben die Gründer dieser Islamischen Republik sehr geschickt gemacht, indem sie das System an allen Ecken und Enden abgesichert haben. Die Revolutionsgarde ist in dem Zusammenhang sehr wichtig, weil sie eine große militärische und wirtschaftliche Macht in diesem Staat ist - und die ist in allen Ecken und Enden der Gesellschaft. Die Menschen werden systematisch kontrolliert, die Geheimdienste sind sehr stark. Es passiert nichts in diesem Staat, was das Regime nicht mitbekommt. Deswegen spielt es für das System keine Rolle, ob da jetzt Raisi sitzt oder Mochber - das macht gar keinen Unterschied. Deswegen hätte ich mir gewünscht, dass Chamenei in diesem Hubschrauber gesessen hätte, weil der Revolutionsführer schon maßgeblich ist. Wo es jetzt - zumindest etwas - politisch instabil werden könnte, ist in der Frage, wer Raisi nachfolgen soll.
Das heißt also für die Menschen im Iran, insbesondere die Künstlerinnen und Künstler, wird sich gar nicht so wahnsinnig viel ändern, oder?
Sahebi: Nein. Solange dieses System besteht, kann es gar keine Verbesserungen geben. Die Gewalt muss aufrechterhalten werden, sie muss eigentlich immer verschlimmert werden, um diese Repression aufrechtzuerhalten. Es ist unmöglich, dass dieses System hinter die eigene Gewalt zurückgeht. Es kann mit diesen Menschen und mit diesem System keine Veränderungen geben.
Das Interview führte Keno Bergholz.
