Final Four: Titelverteidiger Kiel scheitert an Außenseiter Lemgo
Titelverteidiger THW Kiel ist beim Final Four um den DHB-Pokal der Saison 2019/2020 in Hamburg sensationell ausgeschieden. Der Handball-Rekordmeister unterlag dem TBV Lemgo Lippe 28:29 (18:11).
"Wir sind komplett eingebrochen. Es ist unerklärlich. Solche Spiele haben wir schon 100, 200 Mal zu Ende gespielt, ohne dass etwas passiert ist. Wir haben vielleicht den Final-Four-Faktor, der bei so einem Turnier ja immer zuschlägt, unterschätzt. Nichtdestotrotz ist es alleine uns selbst zuzuschreiben, dass wir das Spiel hier nicht gewinnen", sagte Kiels Linksaußen Rune Dahmke dem NDR. Lemgos Coach Florian Kehrmann konnte sein Glück derweil noch gar nicht richtig fassen. "Es lief gerade ab wie in so einem Film. Es ist unglaublich. Jetzt gilt es, einen klaren Kopf zu bewahren. Es bringt nichts, jetzt hier als Zweiter rauszugehen. Jetzt wollen wir den Pott holen", erklärte der 43-Jährige.
Der TBV trifft heute im Endspiel (17.30 Uhr, live im Ersten und hier bei NDR.de) auf die MT Melsungen, die Hannover-Burgdorf mit 27:24 schlug.
THW wird zunächst Favoritenrolle gerecht
Dabei hatte am Donnerstagabend zunächst alles nach einem Favoritensieg ausgesehen. Die Schleswig-Holsteiner profitierten im ersten Vorschlussrunden-Duell des Final-Turniers an der Elbe, das Corona-bedingt viermal verschoben werden musste, von vielen technischen Fehlern des Außenseiters. Nach ausgeglichener Anfangsphase fand Lemgo gegen die sehr offensive Kieler 3-2-1-Deckung keine Mittel mehr und verlor im Positionsangriff zu schnell die Ruhe und Geduld. Die Folge waren einige schlampige Abspiele, die der THW abgeklärt zu Gegenstoß-Treffern nutzte.
Kiel mit Wucht und Spielwitz - Lemgo zu fehlerhaft
Mit einem 4:0-Lauf ging der THW nach 16 Minuten 9:5 in Führung. Kehrmann nahm sofort eine Auszeit, um den Rhythmus des Bundesliga-Tabellenführers zu stören und seinen Akteuren Mut zuzusprechen. Doch an den Kräfteverhältnissen änderte sich anschließend vor 1.600 Zuschauern in Multifunktionsarena im Volkspark nichts. Kiels Abwehr, in der Nationalspieler Patrick Wiencek rund drei Wochen nach seinem Wadenbeinbruch sein Comeback feierte, ließ weiterhin nahezu keine einfachen Treffer zu.
Und in Ballbesitz agierte der Branchenprimus mit Wucht und Spielwitz. Als Rechtsaußen Niclas Ekberg vier Sekunden vor der Halbzeit zum 18:11 traf, schien bereits die Vorentscheidung gefallen. Zu seriös und souverän trat der Favorit auf, zu wechselhaft präsentierte sich Lemgo, als dass eine Wende vor Beginn des zweiten Durchgangs noch realistisch erschien.
TBV mit furioser Aufholjagd nach der Pause
Doch die Ostwestfalen legten nach dem Seitenwechsel ganz viel Leidenschaft in die Waagschale und bekamen bei ihrer ersten Final-Four-Teilnahme seit 2002 auch mit jeden Treffer, den sie aufholten, mehr Sicherheit in ihr Spiel. Nach dem 21:24 durch Bjarki Mar Elisson (45.) durfte der Erstliga-Elfte wieder von der Sensation träumen. 60 Sekunden später verkürzte Abwehrchef Gedeon Guardiola mit einem Wurf ins leere Tor - Kiel hatte einen siebten Feldspieler für Keeper Niklas Landin gebracht - den Rückstand sogar auf zwei Treffer. Alle Auswechselspieler des TBV sprangen von der Bank auf und rissen die Arme in die Höhe.
Lemgo-Keeper Johannesson wächst über sich hinaus
Der Glaube und die Hoffnung auf den Finaleinzug waren beim Außenseiter Mitte der zweiten Hälfte zurück. Und beides wuchs noch einmal, als Dani Baijens im Tempogegenstoß zum 26:27 traf (53.). Der THW war zu diesem Zeitpunkt völlig von der Rolle und kassierte folgerichtig sogar den 27:27-Ausgleich durch einen Siebenmeter von Elisson (54.). Der Isländer brachte die Ostwestfalen 120 Sekunden später sogar erstmals seit dem 1:0 wieder in Front (28:27). Doch nicht nur der Linksaußen, sondern auch Keeper Peter Johannesson wuchs nach der Halbzeit über sich hinaus. Der Schlussmann entnervete die "Zebras" mit einigen tollen Paraden. Zudem scheiterten die Kieler ein paar Mal am Pfosten.
Der elfmalige Pokalsieger lag 30 Sekunden vor Ultimo mit 29:28 zurück, hatte aber immerhin Ballbesitz. Wer würde nun Verantwortung übernehmen? Harald Reinkind tat es, scheiterte mit seinem Wurf jedoch an Johannesson, der den Ball an die Latte lenkte. Der Rest war grenzenloser Jubel beim Außenseiter, der nach schwacher Leistung im ersten Abschnitt ein unglaubliches Comeback feierte.