Die Bremerin Michaela Erler (l.) 1995 trinkt aus dem DHB-Pokal Sekt, ihre Mannschaftskollginnen Ignet Ohlmann, Anja Andersen, Klara Orban und Marlies Waelzer (v.l.)  schauen zu. © picture-alliance / dpa Foto: Oliver Berg

TuS Walle: Hoch geflogen, tief gefallen

Stand: 03.05.2020 13:27 Uhr

In den 1990er-Jahren war der TuS Walle das Nonplusultra im deutschen Frauen-Handball. Ein zwielichtiger Geldgeber führte den kleinen Club aus dem Bremer Arbeiterviertel aus der Viertklassigkeit zu Meisterschaften und sogar einem Europacupsieg. Doch der Mäzen musste ins Gefängnis, und der TuS ging pleite.

Alles begann 1987 mit einer Frage. Volker Brüggemann wollte von Trainer Hans-Herbert Ludolf wissen, was er tun müsse, damit der Club nach oben kommt. "Um schnell nach oben zu kommen, müssen wir Spielerinnen kaufen", antwortete das Urgestein, seit 1966 im Verein und seit 16 Jahren Coach des Viertligisten. Ludolf konnte nicht ahnen, wie ernst es dem zu erheblichem Wohlstand gekommenen Finanzinvestor mit dem Ziel war, aus seiner Tochter und Kreisläuferin Diana eine Bundesliga-Spielerin zu machen. Ein verwegener Plan für den Turn- und Sportverein Walle Bremen von 1891, ein Arbeiterverein aus einem Stadtteil, in dem die Werftenkrise viele Menschen perspektivlos zurückgelassen hatte.

Brüggemanns Millionen für die "Weltauswahl"

Dank Brüggemanns Finanzspritzen wurden zunächst Spielerinnen aus Bremen und Umgebung nach Walle geholt. Wenig später folgte der erste große Coup, als die beste deutsche Handballerin vom VfL Engelskirchen dem Lockruf des Geldes folgte: Nationalspielerin Dagmar Stelberg (219 Länderspiele/832 Tore).

Walles Dagmar Stelberg (l.) und Michaela Erler von Bayer Leverkusen © imago/Claus Bergmann
Leistungsträgerinnen in Walle: Dagmar Stelberg (l.) und Michaela Erler.

Zweimal war sie in die Weltauswahl berufen worden, nun wechselte sie in die Regionalliga. "Sie hatten Ambitionen, die mich irgendwie reizten. Ich fand das spannend, weil sie über kurz oder lang auch Spielerinnen aus dem Ausland holen wollten", sagte Stelberg 2016 dem Sportclub. Zwei Jahre lang verlor Walle kein Spiel.

Stelberg folgten Topspielerinnen aus ganz Europa: Anja Andersen beispielsweise, die exzentrische Dänin, oder die zweimalige "Handballerin des Jahres" Michaela Erler aus Ost-Berlin. Aus Ungarn kam Aniko Geczi, Marina Basanowa, die am 27. April 2020 mit 57 Jahren in Bremen verstarb, aus der damaligen Sowjetunion. Die "Weltauswahl" wurde nach dem Bundesliga-Aufstieg 1990 sofort Meister und zum Aushängeschild des deutschen Handballs.

Ludolf wirft hin, Brüggemann muss in den Knast

Brüggemann trug einen erheblichen Teil des Etats von zwei Millionen Mark - und mischte sich mehr und mehr in sportliche Belange ein. Ludolf schmiss nach dem ersten Titel entnervt hin. "Das ging über Diffamierungen. Da habe ich gesagt: Das ist nicht mehr meine Welt - und bin gegangen", sagte der Trainer.

Der Geldgeber musste bald darauf ins Gefängnis. Wie sich herausstellte, spekulierte der Finanzjongleur mit seiner Firma "Contracta" gar nicht an der Börse. Mit angeblichen Gewinnen aus fiktiven Warentermingeschäften lockte er (neue) Kunden - bis das Kartenhaus zusammenbrach. Der Betrüger wurde nach 85 Prozesstagen zu sechseinhalb Jahren Haft verurteilt.

Acht nationale Titel und Sieger im Europacup

Den Erfolgen der Waller Mädels tat das keinen Abbruch - ganz im Gegenteil: Sie holten zwischen 1991 und 1996 fünf deutsche Meistertitel, dreimal den DHB-Pokal (1993 bis 1995) und als Krönung den Europacup der Pokalsieger 1994. Es war das Jahr des TuS Walle. Bremen war stolz auf seine Handball-Frauen und feierte sie auf dem Rathaus-Balkon zusammen mit den Werder-Fußballern, die ebenfalls Pokalsieger geworden waren. Trainer war da schon lange der Pole Leszek Krowicki.

Die Bremerin Michaela Erler (l.) 1995 trinkt aus dem DHB-Pokal Sekt, ihre Mannschaftskollginnen Ignet Ohlmann, Anja Andersen, Klara Orban und Marlies Waelzer (v.l.)  schauen zu. © picture-alliance / dpa Foto: Oliver Berg
Die Bremerinnen feiern 1995 ausgiebig ihren DHB-Pokalsieg.

Den Managerposten hatte 1992 der gerade einmal 26 Jahre alte CDU-Politiker Jens Eckhoff übernommen, obwohl dieser laut eigener Aussage noch nie zuvor ein Frauen-Handballspiel gesehen hatte. Unter seiner Regie erlebte der TuS das erfolgreichste Jahr der Vereinsgeschichte (1994). Aber auch wenn die Spielerinnen nun halbtags arbeiten mussten und Sparmaßnahmen ergriffen wurden, blieben die Finanzen das Problem: 1996 ging die zur Rettung des Clubs gegründete Bremer Sport- und Investmentgesellschaft (BSI) pleite. Ein Geschäftsführer wurde wegen Steuerhinterziehung verurteilt. Auch Eckhoff geriet ins Visier der Fahnder, betonte aber: "Es hat nie ein Ermittlungsverfahren gegen mich gegeben."

"Die Erfolge sind für mich Schall und Rauch"

Danach ging es steil bergab. Daran konnte auch der als Manager zurückgeholte Ludolf nichts mehr ändern. 1998 wurde das Handball-Team aus der Bundesliga abgemeldet, 2008 ging der TuS Walle in die Insolvenz. Volker Brüggemann starb 2015 im Alter von 73 Jahren. Ludolf blickte 2016 frustriert zurück: "Die ganzen Erfolge sind für mich in der Rückschau nur Schall und Rauch. Wenn ich heute das Rad noch mal zurückdrehen könnte, würde ich vieles anders machen."

Dieses Thema im Programm:

Sportclub | 02.10.2016 | 23:35 Uhr

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