Zu Hause nicht mehr sicher: Gewalt gegen Frauen nimmt weiter zu

Stand: 21.05.2023 06:00 Uhr

Gewalt gegen Frauen findet meist im Privaten statt, die Dunkelziffer ist hoch. Im vergangenen Jahr stieg aber die Zahl der angezeigten Fälle, der "sichtbaren" Opfer. Das sagen auch die Beratungsstellen in Schleswig-Holstein.

von Naïs Baier

Es fing schleichend an: mit lautstarkem Streit und Türenknallen. Dann kam körperliche Gewalt dazu - die Beziehung wurde immer gefährlicher für Anna (Name von der Redaktion geändert). Irgendwann sogar lebensbedrohlich. "Er hat mich zweimal so gewürgt, dass ich wirklich mein Leben fast verloren hätte", erzählt sie. "Und es gab viele Situationen, da war auch viel sexualisierte Gewalt und dann auch die Drohung: Ich nehme dir dein Leben. Ich bringe die Kinder um. Ich bringe mich um." Anna denkt: "Ich muss hier raus. Aber wohin?" Ihre Familie will sie zum Bleiben überreden, unterstützt sie nicht. "Das Deprimierendste ist nicht ernst genommen zu werden und keinen Schutz zu erfahren." Hilfe findet Anna schließlich Hilfe bei einer öffentlichen Anlaufstelle: im Frauenhaus, einer Beratungsstelle des Weißen Rings.

Steigende Fallzahlen: Erschreckend und positiv zugleich

Carmen Frings, Beraterin des Weißen Rings Rendsburg-Eckernförde, blickt in die Kamera © NDR Foto: Naïs Baier
Carmen Frings ist ehrenamtliche Beraterin für Frauen beim Weißen Ring.

Beim Weißen Ring melden sich allein in Schleswig-Holstein jeden Tag drei Frauen, die Opfer von Kriminalität geworden sind - und oft sind die Täter ihre Partner oder Ex-Partner. Im vergangenen Jahr hat sich die Zahl der hilfesuchenden Frauen laut Weißem Ring Schleswig-Holstein im Vergleich zu 2021 "drastisch erhöht". Auch das Landeskriminalamt verzeichnete 2022 einen Anstieg von knapp acht Prozent bei Partnerschaftsgewalt: Insgesamt gab es mehr als 5.000 Opfer, neun Betroffene wurden im vergangenen Jahr von ihrem Partner oder Ex-Partner sogar getötet.

Diese steigenden Fallzahlen sind erschreckend und positiv zugleich: Denn sie zeigen auch, dass sich immer mehr Betroffene Hilfe suchen. In der Beratungsstelle des Weißen Rings Rendsburg-Eckernförde berät Carmen Frings ehrenamtlich Opfer von Partnerschaftsgewalt, bietet ihnen einen geschützten Raum. Denn der Weg aus der Gewalt ist schwer: "Die größte Schwierigkeit ist die Angst, dass ihnen die Kinder genommen werden, die Angst der finanziellen Not", erklärt Carmen Frings.

Immer wieder Hilfe anbieten

Partnerschaftsgewalt ist weiterhin ein Thema, das tabuisiert wird und von Klischees behaftet ist. Viele Betroffene fühlen sich laut den Beraterinnen des Weißen Rings von ihrem Umfeld alleingelassen: von Passanten und Nachbarn, die sich nicht in "Privatangelegenheiten" einmischen wollen, Familienmitgliedern, die den Frieden und den Schein wahren wollen - generell wird die Verbreitung von Partnerschaftsgewalt in unserer Gesellschaft unterschätzt. Doch gibt es sie in vielen Formen, in allen Schichten, überall im Land, so die Fachkraft der Beratungsstelle. "Also, das klassische blaue Auge ist natürlich ein Hinweis. Aber es gibt dann ja Männer, die schlagen dann halt auch dahin, wo man es eben nicht sieht. Aber der bekannte Treppensturz sollte immer hinterfragt werden."

Außenstehende können eine wichtige Unterstützung für Opfer häuslicher Gewalt sein, so Carmen Frings: "Man sollte immer wieder Hilfe anbieten, damit die Frauen da rauskommen. Im Extremfall die Polizei zu rufen, ist immer eine gute Hilfe. Weggucken nie. Am besten versuchen, vorsichtig mit der Frau ins Gespräch zu kommen und Verständnis zeigen und zuhören."

Ein Leben danach

Mit seelischer und tatkräftiger Hilfe von Beratungsstellen hat Anna es geschafft: Sie hat allein neu angefangen und ist ans andere Ende der Bundesrepublik gezogen. Mithilfe des Weißen Rings hat sie eine Wohnung gefunden und sich ein neues Leben aufbauen können. Sie steht weiterhin im engen Austausch mit ihrer Beraterin, denn bis heute spüren sie und ihre Kinder die Folgen der jahrelangen häuslichen Gewalt. Ihr Ex-Partner stalkt und bedroht sie online und telefonisch weiter. Doch die Entfernung gibt Anna Sicherheit und eine Chance, das Erlebte zu verarbeiten: "Es ist schon viel besser. In manchen Situationen merkt man es oder es kommt raus: Es wird immer ein Teil des Lebens bleiben. Man muss damit umgehen lernen." Trotz der anhaltenden Bedrohung erzählt Anna ihre Geschichte: Um anderen Betroffenen Mut zu machen und zu zeigen, "dass es sich lohnt zu gehen. Und dass es auch ein Leben danach gibt. Ich sage immer: Ich habe es überlebt, und das können auch andere."

Hilfsangebote für Betroffene:

  • Frauenberatungsstellen Schleswig-Holstein: www.lfsh.de
  • Hilfetelefon Gewalt gegen Frauen: 08000 11 60 16
  • Opfer-Telefon Weißer Ring e.V.: 116 006

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Schleswig-Holstein Magazin | 17.05.2023 | 19:30 Uhr

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