"Es war besonders hart, die Eltern nicht zu sehen"
von Janina Harder

Phil sitzt an einem weißen Schreibtisch und zeichnet zwei Löwen auf ein Papier, einen braunen und einen weißen. Es sind seine Lieblingstiere. In allen Variationen zieren sie das Kinderzimmer, das sich der Achtjährige mit seinem zwei Jahre älteren Bruder Ole teilt. Ihre große, gemeinsame Leidenschaft ist Harry Potter - eine Romanfigur, die keine Eltern mehr hat und die von einem zauberhaften Dampfzug in eine etwas schönere, fantastische Welt gebracht wird: nach Hogwarts. Ein Poster davon hängt an der Wand direkt über dem Schreibtisch.
Phil und Ole haben noch Eltern, aber sie können nicht bei ihnen sein. Ihre Mutter hat eine Muskelkrankheit und kann sich nicht mehr um die beiden Jungen kümmern. Deswegen wohnen sie "auf dem Hof" - so nennen sie das Kinder- und Jugendheim Hof Kremper Au bei Schönwalde am Bungsberg im Kreis Ostholstein.
Ein ganzer Rucksack voll Probleme - auch ohne Corona
Hier gibt es noch acht weitere Kinder, sie sind zwischen acht und 15 Jahre alt. Neun Jungen, ein Mädchen. "Sie kommen aus den unterschiedlichsten Gründen", erzählt Sonja Koch, leitende Erzieherin der Einrichtung. "Sie haben selbst Gewalt erlebt oder waren Zeuge von Gewalt in der Familie", sagt sie, "die kommen hier nicht mit einem Päckchen, das sie tragen - sondern einem ganzen Rucksack voll."
Ihr Mann Wolf Koch ist Betreiber und Geschäftsführer des Heims. "Keines der Kinder hat sich freiwillig dazu entschieden, ohne Eltern zu wohnen", erklärt er. "Sondern das Jugendamt ist gekommen und hat es aus der Familie genommen, weil die Rahmenbedingungen für das Zusammenleben dort nicht funktioniert haben." Die Gründe dafür seien vielfältig: Gewalt, Drogen, Vernachlässigung - oder eben Krankheit.
Fast vier Hektar Platz auf dem Hof
Das Homeschooling in der Zeit, als die Schulen Corona-bedingt geschlossen waren, sei vergleichsweise gut gelaufen, sagt Wolf Koch. Auf dem Hof Kremper Au blieben die Kinder in ihrer Kohorte und konnten sich weitgehend frei bewegen. Ein Vorteil zu anderen Kindern - hatten sie doch viele Spielkameraden zur Verfügung und auch geschulte Kräfte, die sich um ihre Schularbeiten und Aufgabenstellungen der Schule zu Hause kümmern. "Ich schätze mich eher glücklich" sagt Ole, Phils zehnjähriger Bruder. "Weil meine Freunde sind alle Einzelkinder und wir haben hier so viele Leute und so viel Platz zum Spielen." Fast vier Hektar gibt es hier auf dem Hof. Die 12-jährige Emily kann ihm nur beipflichten. "Meine Freundin zum Beispiel wohnt in einer Dreizimmerwohnung. Die musste viel zu Hause bleiben."
Beschäftigung und Ablenkung durch Wildnispädagogik
Seit der Homeschooling-Zeit wurde in dem Kinderheim Hof Kremper Au ein Wildnispädagoge beschäftigt, der jeden Tag drei Stunden lang mit den Kindern in der Natur war und mit ihnen dort eine Art Überlebenstraining und Naturerleben ermöglichte. "Das ist eigentlich das einzig Gute, was Corona gebracht hat: dass wir jetzt so tolle Sachen machen", sagt Phil. Die Kinder meditieren zusammen, bauen Weidenzäune und ein Waldlager, lernen viel über Lagerfeuer. "Das hat Ängste und mögliche Aggressionen der Kinder in etwas Positives verwandelt", so Wolf Koch. So habe man der Krise gut trotzen können - und der Wildnispädagoge kommt weiterhin.
Elternbesuche waren verboten
Besonders schlimm für alle Kinder war allerdings, ihre Eltern für mehr als sechs Wochen nicht mehr sehen zu dürfen. Wegen der Ansteckungsgefahr wurden Besuchszeiten gestrichen. Das betrübte die Kinder, selbst wenn sie in einigen Fällen keine besonders gute Erfahrung innerhalb ihrer Ursprungsfamilie gemacht hatten. Phil und Ole, deren Mutter durch eine Vorerkrankung stark gefährdet für Corona gilt, litten sehr unter der Sehnsucht. "Mir ist erst durch den Kopf gegangen, dass es blöd für meine Mutter ist - weil sie schon erkrankt ist und sie daran sterben kann", erzählt Phil. "Ich wurde manchmal richtig traurig, weil ich sie nicht sehen konnte", ergänzt sein Bruder Ole, "und eine Zeitlang konnte ich an manchen Tagen nicht richtig denken, weil ich unbedingt zurückwollte." Zweimal pro Woche konnten sie mit ihrer Mutter telefonieren, mittlerweile durften sie sie auch schon wieder treffen.
Beruhigungsfaktor Tiere
Sonja Koch hatte anfangs Bedenken, dass sich die Kinder wegen des Ausnahmezustands viel streiten könnten. "Das ist ausgeblieben, weil sie trotzdem beschäftigt waren. Wir hatten immer was zu tun - und wenn's Ponyputzen ist." Auf dem Hof Kremper Au leben auch Pferde, Ponys, Schafe, Ziegen, Minischweine und Hühner. Die Kinder hätten zum Beispiel gemistet oder die Schweine mit Wasser oder Stroh versorgt. "Sie konnten an allen Ecken und Enden helfen." Zum Konzept der Einrichtung gehöre es auch, dass die Kinder sich um die Tiere kümmern - und dadurch das Gefühl bekommen, gebraucht zu werden.
Unregelmäßige Schul-Präsenztage sorgen für Verunsicherung
Da die Kinder viel Verunsicherung in ihrem bisherigen Leben erlebt haben, hätten sie etwas sensibler auf die mit der Corona-Pandemie einhergehenden Veränderungen reagiert, erzählt Wolf Koch. Eine feste Struktur gebe ihnen Sicherheit. Werde die durch neue Regeln und unterschiedliche Präsenztage in der Schule immer wieder durchbrochen, komme es bei den Kindern zu Anpassungsschwierigkeiten und einer allgemeinen Verunsicherung, so Koch.
Insgesamt sei man aber sehr froh, die Situation gut gemeistert zu haben. "Von Eltern erwarten die Kinder, dass sie das Richtige entscheiden. Und diese Aufgabe ist uns jetzt übertragen worden", sagt Rolf Koch sichtlich bewegt. "Ich denke, wir haben einen ganz guten Job gemacht, dass die Kinder sich größtenteils so gut mit allem arrangiert haben. Am stolzesten aber sind wir auf die Kinder selbst."
