Das Trauma von Brokstedt: "Eine Last wie eine Schrankwand"
Der Schock über die Messerattacke von Brokstedt hat eine Wunde bei den Menschen hinterlassen, bei den direkt Betroffenen wie auch im Dorf und darüber hinaus. Wie überwindet man so etwas? Und welche Rolle spielt dabei das Gerichtsurteil?
Mit einem Urteil soll Recht gesprochen werden, für Gerechtigkeit kann es aber nicht mehr sorgen. Zumindest bekommt man diese Antwort, wenn man sich in Brokstedt umhört. "Gerechtigkeit wäre gewesen, wenn diese Tat gar nicht erst passiert wäre und man sie hätte vermeiden können", sagt Brokstedts Bürgermeister Clemens Preine (CDU). "Gerechtigkeit würde für mich bedeuten, wenn ich die Tat ungeschehen machen könnte." Doch das ist unmöglich: Der 25. Januar 2023 wird im gemeinsamen Gedächtnis von Brokstedt bleiben.
Das Thema Messerattacke werde nie beendet sein, sagt Preine. Das Urteil sei dennoch ein wichtiger Schlussstrich - erstmal. "Die Tat werden wir natürlich nie vergessen. Und man wird auch immer wieder daran erinnert, wenn man hier am Bahnsteig entlanggeht oder im Zug sitzt." Der Bahnhof ist direkt auf der anderen Straßenseite von Preines Amtszimmer im Bürgerhaus in Brokstedt. Die Regionalzüge rattern hier mitten durch das 2.000-Einwohner-Dorf im Kreis Steinburg. Ein Gedenkstein mit einem Herz darauf erinnert an die beiden Getöteten, die Ibrahim A. im Zug mit einem Messer erstochen hat.
Wunsch des Bürgermeisters: "Dass wir wieder zur Ruhe kommen"
Die Messerattacke von Brokstedt hat das kleine Dorf mitten in Schleswig-Holstein vor knapp eineinhalb Jahren bundesweit bekannt gemacht - und wird auch weiterhin damit in Verbindung bleiben. Wie schafft man es als Dorfgemeinschaft, mit so etwas klarzukommen? "Indem wir damit offen umgegangen sind", antwortet Clemens Preine. Letztendlich habe jeder jeden ansprechen können, jeder sei gehört worden. Oft wurde in den vergangenen Monaten anerkennend gesagt, dass die starke Gemeinschaft und der Zusammenhalt es ermöglichen: das Füreinanderdasein.
Preine wünscht sich, dass es auch weiterhin Momente und Orte des Gedenkens geben wird, zum Beispiel am Jahrestag der Tat. Vor allem wünscht er sich für sein Dorf aber eins: "Dass wir wieder zur Ruhe kommen." Das könnte man bereits ein Stück weit beobachten. Aber immer, wenn etwas im Zusammenhang mit der Tat anstehe - wie der Jahrestag oder jetzt das Urteil - gebe es einen ordentlichen Auflauf. "Das müssen wir nicht unbedingt haben." Der Bürgermeister würde sich freuen, wenn Brokstedt auch wieder mit dem Lanz-Bulldog-Treffen oder dem Motorradrennsport Speedway Schlagzeilen machen würde. Schritt für Schritt zurück zur Normalität.
Augenzeuge: "Ich kann meine Augen nicht mehr zumachen, ich schlafe nicht mehr im Zug"
Für viele, die unmittelbar von der Tat betroffen waren, ist das ein weiter, für manche endlos erscheinender Weg. Als Anfang Mai, am 38. Verhandlungstag, die Plädoyers im Brokstedt-Prozess gehalten wurden, verlas die Staatsanwaltschaft nur einige von vielen traumatisierten Aussagen vor Gericht. 97 Zeuginnen und Zeugen wurden im Prozess befragt, darunter viele, die die Tat mit ansehen mussten: "Ich bin vorsichtiger geworden. Ich höre draußen keine Musik mehr", sagt eine Person. "Ich fahre wieder, aber die Angst ist immer da. Ich habe das Gefühl, dass wir keinen Schutz haben. Ich kann meine Augen nicht mehr zumachen, ich schlafe nicht mehr im Zug", sagt eine andere Person. Und: "Ich kann bis heute nicht Zug fahren, ich musste mir eine neue Ausbildungsstelle suchen, damit ich nicht mehr Zug fahren muss."
Den Menschen ist das Sicherheitsgefühl abhanden gekommen
Sascha Niemann leitet die Trauma-Ambulanz beim Verein Wendepunkt Elmshorn (Kreis Pinneberg). Dieser kümmert sich bis heute um die, die Unterstützung und Ansprache brauchen. "Es fiel ja auch oft ein Satz wie: 'Dass so etwas hier bei uns auf dem Dorf passiert, konnte sich keiner vorstellen' - und das ist Ausdruck dessen, dass ja ein Gefühl von Sicherheit massiv erschüttert wurde." Und das betrifft eben auch Menschen, die im näheren Umfeld wohnen, so Niemann.
Die Wunde, die das Trauma der Tat bei vielen hinterlassen habe, sei inzwischen bereits etwas verheilt "und gleichzeitig bleibt auch immer noch ein Restzweifel, ob es nicht doch wieder passieren könnte." Am Anfang habe er sehr viel mit Menschen zu tun gehabt, die Sätze gesagt haben, wie sie die Staatsanwaltschaft in ihren Plädoyers zitiert hat - die nicht mehr in Züge steigen können. Niemanns Arbeit besteht unter anderem darin, Menschen da herauszuhelfen. Es sei grundsätzlich bei Trauma-Reaktionen so, dass Menschen Situationen eher ihrem Gefühl nach beurteilen, das sie im Moment des Traumas hatten, als mit dem Kopf "und es fällt ihnen schwer zu begreifen, dass das Gefühl aufgrund einer Situation entstanden ist, die vorbei ist."
Die Zuweisung von Schuld steht nicht im Mittelpunkt
Wenn man jetzt das Zug fahren vermeidet, besteht laut Niemann die Gefahr, dass sich die Angst weiter verstärkt. "Es ist ganz wichtig, Situationen nicht zu vermeiden, die wir mit traumatischen Ereignissen in Verbindung bringen." Neue Erfahrungen mit dem Zugfahren sind also sehr wichtig im Umgang mit einem Trauma.
Während in Gesellschaft und Politik nach der Tat eine laute Debatte über Schuld und Fehler geführt wurde und darüber, dass Gesetze strenger angewendet und Abschiebungen konsequenter durchgeführt werden müssen, erlebte Niemann unter den Betroffenen etwas anderes: "Da kann ich ja spannenderweise nur berichten, dass im unmittelbaren Umfeld, bei den Menschen, mit denen wir zu tun hatten, das gar keine Rolle gespielt hat. Vielleicht ist das etwas, was eher auf einer gesellschaftlichen Ebene mit mehr Abstand geschieht." Bei den Betroffenen habe die Verarbeitung im Mittelpunkt gestanden - und nicht die Zuweisung von Schuld.
Trauma-Berater: "Die erste Schockzeit ist vorbei"
Und die Menschen in Brokstedt? "Was mich wirklich sehr beeindruckt hat: Wie das Dorf zusammengestanden hat", sagt Trauma-Berater Niemann. "Das ging ja schon am Tag der Tat los, wo ganz viel zentral in der Gaststätte vor Ort stattgefunden hat." Dort hätten sich die Menschen gegenseitig zugehört und Trost gespendet. "Manchmal ist ein Trauma wie eine Schrankwand, die man alleine nicht tragen kann - aber zu viert ist es leichter." Losgelöst von den direkten Verletzten und Getöteten merke man schon, dass immer mehr Ruhe einkehre. Die erste Schockzeit sei vorbei.
Und dann geht es noch einmal um Gerechtigkeit. Auch der Pädagoge ist sich sicher: "Egal wie ein Urteil ausfällt, ein Wunsch nach Gerechtigkeit oder Ausgleich ist damit nie abgedeckt, denn das macht ja nie was ungeschehen." Ein Urteilsspruch könne zwar als Ritual und als Abschluss eine wichtige Funktion haben. "Da ist der Schlusspunkt gesetzt und gleichzeitig ist das eine Möglichkeit, sich nicht mehr mit dem Thema auseinanderzusetzen." Aber ein großer Wunsch bleibe unerfüllt, der nach Gerechtigkeit. Damit muss das Dorf Brokstedt leben, irgendwie. "Die Tat bleibt die Tat, das macht es so schwierig."