Risiko Narkose: Eklatante Mängel in Arztpraxen

Seit fünf Jahren ist Gudrun Iwers nicht mehr sie selbst: Im April 2007 sollen der damals 60-Jährigen vier Implantate in einer Buxtehuder Zahnarztpraxis eingesetzt werden, ein vermeintlich einfacher Eingriff. Nach der Operation wird Gudrun Iwers in einen anderen Behandlungsraum gelegt, sie schläft noch. Da sie Diabetes hat, muss sie ständig überwacht werden.
Doch von diesem Moment an wird der Verlauf der Narkose anscheinend nicht mehr richtig kontrolliert. Henry Iwers ist irritiert, als er so lange an der Seite seiner Frau saß: "Sie wurde einfach nicht wach. Zwischendurch kamen Patienten rein, die hatten auch eine Vollnarkose erhalten. Die haben nur ganz kurz auf der Liege gelegen und waren dann schon wieder hellwach. Das hat mich wirklich stutzig gemacht."
Für immer ein Pflegefall
Erst nach fast zwei Stunden wird Gudrun Iwers in ein Krankenhaus gebracht. Niemand hatte ihren schlechten Zustand bemerkt. Sie hat einen Zuckerschock, überlebt nur knapp. Aber ihr Gehirn ist schwer geschädigt, sie wird für immer zum Pflegefall. Heute kann sie nicht mehr selbst essen, sich nicht verständigen, Arme und Beine nicht mehr bewegen. Sie ist vermutlich blind. Niemand weiß, was und wie viel sie noch wahrnimmt. Heilungschancen gibt es nicht.
Gudrun Iwers hätte nach der Narkose nicht unbeaufsichtigt sein dürfen. Trotzdem ist es passiert. Rechtsanwältin Ute Claus hat inzwischen zahlreiche Gutachten vorliegen, die die verantwortlichen Ärzte schwer belasten. "Wenn Gudrun Iwers korrekt und engmaschig überwacht worden wäre, wären die erheblichen Notsignale die der Körper ausgesendet hat gesehen worden, ernst genommen worden und man hätte adäquat darauf reagieren können und den Notarzt rufen. Das ist viel zu spät erfolgt."
Krankenhäuser gewährleisten lückenlose Überwachung

Professor Hanswerner Bause, ehemaliger Chefarzt der Abteilung Anästhesiologie und operative Intensivmedizin an der Asklepios Klinik Hamburg Altona, befürchtet, dass dies kein Einzelfall ist. Obwohl bei ambulanten Operationen prinzipiell die gleichen Sicherheitsvorschriften gelten wie bei stationären Operationen im Krankenhaus, sähe die Realität anders aus. Gängige Standards wie die ständige Überwachung des Patienten nach der Narkose durch speziell dafür qualifiziertes Fachpersonal gäbe es im ambulanten Bereich häufig nicht. Zudem seien Krankenhäuser ganz anders ausgestattet und könnten eventuelle personelle Engpässe viel besser auffangen als kleine, ambulante Praxen.
Unterdessen sind ambulante Operationen in Arztpraxen weiter auf dem Vormarsch, nicht nur beim Zahnarzt: Ob Krampfadern ziehen, Weisheitszähne heraus operieren oder Polypen entfernen – chirurgische Eingriffe erfolgen immer häufiger ambulant. Fast ein Fünftel aller Vollnarkosen wird inzwischen ambulant durchgeführt, das sind jährlich mehr als acht Millionen Eingriffe. Vor zehn Jahren waren es noch rund fünf Millionen.
Schneller und günstiger, das sind die Hauptargumente, die für ambulante Operationen sprechen und die Krankenkassen unterstützen die kostengünstige Alternative. Das dürfe jedoch nicht zu Lasten der Qualität gehen, mahnt Professor Hanswerner Bause. Er plädiert für Qualitätskontrollen im ambulanten Bereich. Bislang sind diese im System nicht vorgesehen.
Praxis in Buxtehude mittlerweile insolvent
Mit wie vielen Leben in der Buxtehuder Zahnarztpraxis gespielt wurde, in der sich das Leben von Gudrun Iwers schlagartig änderte, weiß niemand. Inzwischen hat der Zahnarzt Insolvenz angemeldet und seine Praxis geschlossen. Der verantwortliche Anästhesist wurde zu einer Geldstrafe verurteilt.
Henry Iwers hilft das wenig: "Das hätte verhindert werden können. Auf jeden Fall. Und ich stehe manchmal da und denke warum ist das alles passiert? Aber ich kann’s ja nicht rückgängig machen." Eigentlich wollte er mit seiner Frau das Leben genießen, sobald er in Rente geht. Stattdessen wird seine Frau für immer auf Hilfe angewiesen sein, weil niemand überprüft hat, ob Zahnarzt und Anästhesist sich an die Regeln halten.
