Stand: 31.07.2022 06:00 Uhr

Kommentar zur Atomkraft-Debatte: Die grüne Wundertüte

Die Verlängerung - oder zumindest die Streckung - der Laufzeiten der verbleibenden drei Atomkraftwerke in Deutschland wird immer wahrscheinlicher. Auch bei den Grünen mehren sich die Stimmen, angesichts der energiepolitischen Lage zumindest die Streckung zuzulassen.

Ein Kommentar von Cora Stephan, freie Autorin

Bei Grüns ist immer mehr drin als man so denkt. Lassen wir uns überraschen: Demnächst kehrt auch in Sachen Atomenergie womöglich die von der Realität eingeforderte Vernunft ein und man lässt unter der Ägide von Wirtschaftsminister Robert Habeck die drei noch laufenden Kernkraftwerke weiter liefern - und lässt die ausgeschalteten womöglich wieder ans Netz gehen.

Im Winter herrscht gern Dunkelflaute

Warum? Weil Putin das Gas nicht mehr liefert, das wir doch eigentlich gar nicht wollen, dummerweise aber brauchen? Nein, weil die sogenannte Energiewende, also die Bevorzugung von Energie aus Windkraft und Solarpaneelen, nur solange glaubhaft gemacht werden konnte, solange das Netz durch das günstige und verlässlich gelieferte Gas aus Russland stabil gehalten wurde. Im Winter aber herrscht gern Dunkelflaute - die Sonne bleibt aus und kein Lüftchen weht. Und ausgerechnet dann sollen die letzten drei Kernkraftwerke abgeschaltet werden, wenn angesichts steigender Energiekosten und der Aufforderung, am Gas zu sparen, die Bürger Deutschlands fürchten, frieren zu müssen?

Doch halt, Atomkraftwerke liefern ja keine Wärme, heißt es aus grünen Kreisen. Genau: Deshalb werden derzeit massenhaft elektrische Heizgeräte gekauft. Die wandeln bekanntlich Strom in Wärme um. Man kann sich also ausrechnen, wann an kalten Tagen Blackout droht.

Und deshalb werden nicht nur die umweltunfreundlichen Kohlekraftwerke länger laufen, sondern womöglich bald auch die klimafreundlichen Kernkraftwerke, die ja selbst die EU und das IPCC nachhaltig nennen.

Nicht möglich, wie Robert Habeck jüngst meinte? Oh doch, bekräftigte jüngst etwa der Betreiber von Isar II, es brauche dafür weder eine Neugenehmigung noch neue Brennstäbe. Es müsse nur von Seiten der Politik ausdrücklich gewünscht werden.

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Und so wird es womöglich kommen, ausgerechnet von grüner Seite, obzwar man sich noch ziert.

Grüne haben schon oft gegen eigene Mythen verstoßen

Denn das widerspräche ja dem grünen Gründungsmythos, diesem "Atomkraft? Nein danke" mit lachender Sonne. Das ist in der Tat nichts weiter als ein Mythos. Die Grünen waren von Anfang an eine Art Wundertüte. Und sie haben schon ziemlich oft gegen die eigenen Mythen verstoßen.

Die Grünen eine pazifistische Partei? Doch, ja, die Friedensbewegung spielte von Beginn an ihre Rolle in der Partei. Doch bereits im Jugoslawien-Konflikt rückten die Grünen von einer strikt pazifistischen Position ab und erst recht gilt das für den Krieg in der Ukraine.

Auch Umwelt und Natur spielten nur in einem Teil der einstigen Grünen eine große Rolle, den anderen war das zu sentimental. Und heute gilt die "Rettung" des Klimas längst als weit wichtiger als Natur- und Umweltschutz. Denn Gattungs-, also Menschheitsinteressen zu vertreten macht unangreifbar.

Folgeschäden der Energiewende sind nicht unerheblich

So wird dafür einiges geopfert, was Naturschützern heilig sein müsste. Die Folgeschäden der sogenannten Energiewende sind ja nicht unerheblich. Windkraftanlagen bedeuten schließlich auch Bodenversiegelung und Vogelsterben.

Doch Zweifel an diesem deutschen Sonderweg blieben aus, solange alles gut ging. Denn da waren neben Putins Gaslieferungen ja noch die Nachbarn, die aushalfen, wenn's mal knapp wurde mit der Energie. Mit Atomstrom aus Frankreich etwa. Hauptsache, man macht sich nicht in Deutschland die Finger schmutzig mit derart unsauberen Energiequellen. Doch die Nachbarn wollen nicht mehr so recht solidarisch sein.

Der Druck der Verhältnisse nimmt von Tag zu Tag zu. Nicht nur die Opposition unter Friedrich Merz fordert ein Umdenken, auch ein Aufruf von 20 Professoren, die sogenannte Stuttgarter Erklärung, kratzt am grünen Selbstverständnis. Atomkraftwerke, schreiben sie, benötigten wenig Platz im Gegensatz zur Nutzung von Wind und Sonne, es gäbe also kein Problem mit Natur- und Artenschutz und erst recht nicht mit der Klimarettung.

Zwar ist auch der Mythos, die Grünen seien eine Naturschutzpartei, längst geplatzt. Doch wer weiß: dies könnte das entscheidende Argument sein für einen grünen Befreiungsschlag.

Zurück zur Atomkraft - aus Liebe zur Natur. Robert Habeck: Ihre Chance.

 

Anmerkung der Redaktion: Liebe Leserin, lieber Leser, die Trennung von Meinung und Information ist uns besonders wichtig. Meinungsbeiträge wie dieser Kommentar geben die persönliche Sicht der Autorin / des Autors wieder. Kommentare können und sollen eine klare Position beziehen. Sie können Zustimmung oder Widerspruch auslösen und auf diese Weise zur Diskussion anregen. Damit unterscheiden sich Kommentare bewusst von Berichten, die über einen Sachverhalt informieren und unterschiedliche Blickwinkel möglichst ausgewogen darstellen sollen.

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NDR Info | Kommentar | 31.07.2022 | 09:25 Uhr

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