Kleepflanzen mit einem kleinen Schornsteinfeger und der Jahreszahl «2023» stehen auf einem Transportwagen in einem Gartenbaubetrieb in Weener. © dpa-Bildfunk Foto: Hauke-Christian Dittrich/dpa

Kommentar: Mal positiv denken - auch so geht Politik

Stand: 01.01.2023 06:00 Uhr

2022 war ein Jahr der schlechten Nachrichten, vor allem, aber nicht nur wegen des russischen Angriffskrieges in der Ukraine. Ein Ende des Krieges ist nicht in Sicht und der Kampf gegen den Klimawandel kommt nur zögernd voran. Trotzdem sollten wir, sollte die Politik nicht verlernen, positiv zu denken und Mut zum Optimismus beweisen.

Stephan Richter, freier Autor, ehemals Chefredaktion Schleswig-Holsteinischer Zeitungsverlag sh:z. © sh:z Foto: Marcus Dewanger
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Ein Kommentar von Stephan Richter, freier Autor

Zu viele schlechte Nachrichten! Diese Kritik an den Medienmachern ist uralt. In der griechischen Antike mussten Überbringer schlechter Nachrichten sogar mit ihrer Hinrichtung rechnen. Und heute? Wie sieht es nach den vielen negativen Schlagzeilen des vergangenen Jahres mit der Vorschau auf 2023 aus? Wird es besser?

Das Visionäre in Politik und Gesellschaft ist verkümmert

Stephan Richter, freier Autor, ehemals Chefredaktion Schleswig-Holsteinischer Zeitungsverlag sh:z. © sh:z Foto: Marcus Dewanger
Stephan Richter meint: "Wer Krisen nur verwaltet, kommt nicht weiter."

Erich Kästner streute seinen Lesern in dem Gedicht "Und wo bleibt das Positive?" keinen Sand in die Augen. "Die Zeit ist schwarz, ich mach euch nichts weis" schrieb er vor gut 90 Jahren. Zu beschönigen gibt es auch heute nichts. Wohl aber sollte 2023 stärker über den Tellerrand tagesaktueller Nachrichten geschaut werden. Hier gibt es Nachholbedarf. Das Visionäre in Politik und Gesellschaft ist verkümmert, seit ein Satz aus der Regierungszeit Angela Merkels Schule machte. "Auf Sicht fahren", lautete das Motto der früheren Kanzlerin. Hinzu kam die Rede von der Alternativlosigkeit.

Zu kurz gekommen sind dabei langfristige Strategien und Perspektiven. Bis heute. Nachdem Kanzler Olaf Scholz vor zehn Monaten von der "Zeitenwende" gesprochen hatte, wurde mit diesem Begriff vor allem eine Botschaft verbunden: Alles wird schlechter. Zum Glück gibt es jetzt erste demoskopische Hinweise, dass sich das Land aus dem Stimmungstief heraus bewegt. Trotz des fürchterlichen Krieges in der Ukraine, trotz Inflation und vieler anderer Herausforderungen. Etwas mehr Optimismus tut gut.

Wachsender Verlust an Zuversicht

Nicht zu vergessen: Auch in der Vergangenheit gab es Krisen, die das Land bis ins Mark erschütterten - von Ängsten um den Weltfrieden während des Kalten Krieges bis zu den Sorgen um Natur und Umwelt. Man erinnere sich an den ersten Bericht des Club of Rome zum kritischen Zustand des Planeten. 50 Jahre ist das her. Und selbst die Explosion der Energiepreise ist nicht neu. Als die arabischen Staaten 1973 ein Embargo verhängten, stieg der Rohölpreis um 70 Prozent.

Der Unterschied zu den Krisen der Nachkriegszeit ist heute der wachsende Verlust an Zuversicht und an den Glauben, die aktuellen Herausforderungen politisch, technologisch und nicht zuletzt durch Verhaltensänderungen meistern zu können. Der bulgarische Politologe und Politikberater Ivan Krastev spricht vom "Verschwinden der Zukunft". Demokratische Gesellschaften verlören den Glauben, Dinge zum Besseren verändern zu können.

Krisen können Kräfte freisetzen

Schlechte Nachrichten lassen sich nicht vermeiden. Wohl aber muss eine Zukunftsperspektive her, die über alle Entlastungspakete des Bundes, über die x-te Korrektur im desolaten Gesundheitssystem, über den nächsten Preisdeckel hinausgeht. Wer Krisen nur verwaltet, kommt nicht weiter. Selbst kürzere Planungswege, wie sie beim Bau der Flüssiggas-Terminals in Wilhelmshaven und Lubmin zum Erfolg führten, reichen allein nicht. Ideen und Eigeninitiativen sind gefragt. Staatliche Unterstützung und Eingriffe in Markt und Preise hat es genug gegeben.

Krisen können Kräfte freisetzen. Das ukrainische Volk beweist dies auf beeindruckende Weise. Auch der Westen hat etwas zu bieten. Er ist angesichts der neuen geopolitischen Herausforderungen zusammengerückt. Auf solchen Schritten lässt sich aufbauen. Zum Beispiel, wenn es Deutschland und Europa gelingt, sich endgültig aus der Abhängigkeit von russischem Gas und Öl zu befreien. Die Energiewende hat mit Komponenten wie Wasserstoff und Geothermie an Bandbreite gewonnen. Selbst die Atomenergie ist kein völliges Tabuthema mehr. 

Man muss sich die Welt nicht schönreden, um Optimismus zu wecken. Egon Bahr hat dies vor genau 50 Jahren vorexerziert. Nachdem er als sogenannter Architekt der Neuen Ostpolitik den Grundlagenvertrag mit der DDR ausgehandelt hatte, sagte er: "Bisher hatten wir keine Beziehungen, jetzt werden wir schlechte haben - und das ist der Fortschritt."

Mal positiv denken - auch so geht Politik: Sie fährt nicht nur auf Sicht, sondern sie hat einen Zukunftsplan.

Anmerkung der Redaktion: Liebe Leserin, lieber Leser, die Trennung von Meinung und Information ist uns besonders wichtig. Meinungsbeiträge wie dieser Kommentar geben die persönliche Sicht der Autorin / des Autors wieder. Kommentare können und sollen eine klare Position beziehen. Sie können Zustimmung oder Widerspruch auslösen und auf diese Weise zur Diskussion anregen. Damit unterscheiden sich Kommentare bewusst von Berichten, die über einen Sachverhalt informieren und unterschiedliche Blickwinkel möglichst ausgewogen darstellen sollen.

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NDR Info | Kommentar | 01.01.2023 | 09:25 Uhr