VIDEO: Flucht statt Front - Ukrainer möchten gerne im Norden bleiben (2 Min)

Ukrainer in Norddeutschland: Wir wollen helfen, aber nicht kämpfen

Stand: 06.02.2024 17:22 Uhr

Seit Kriegsbeginn sind etwa 50.000 Ukrainer im wehrfähigen Alter zwischen 18 und 60 Jahren nach Norddeutschland gekommen. Die Regierung in Kiew fordert diese Männer nun zur Rückkehr auf. NDR Info hat drei von ihnen getroffen und gefragt: Geht Ihr zurück in die Heimat?

von Sophia Stritzel und Andrea Brack Peña

Große Säcke mit Hundefutter für ein Tierheim in der Stadt Dnipro, kartonweise Bausilikon, um Einschusslöcher in Hauswänden zu versiegeln: Oleksander Ustinov lädt viele Kisten, Kartons und weiteres Hilfsmaterial in einen weißen Transporter ein. Für die Hilfsorganisation Helpchain fährt er einmal pro Woche von Herford in Nordrhein-Westfalen nach Hamburg und sammelt dort Spenden für die Ukraine ein. Sasha, wie ihn alle nennen, möchte seinen Landsleuten helfen - aber er möchte nicht im Krieg gegen Russland kämpfen.

Erlaubnis zur Ausreise wegen Herzerkrankung

Seit fast zwei Jahren lebt Ustinov in Deutschland. Die Entscheidung, die Ukraine zu verlassen, trafen er und seine Frau bereits vier Tage nach Kriegsbeginn Ende Februar 2022. In dieser Nacht hielt sie der Luftalarm wach. Um sich vor Splittern zu schützen, übernachteten sie im Flur ihrer Wohnung. Am nächsten Tag packten sie die Koffer.

Mit seiner Frau und seinem Sohn ging der Ukrainer damals zu Fuß die zwölf Kilometer lange Strecke von seinem Heimatort zur rumänischen Grenze. Weil er herzkrank ist, durfte er ausreisen und wurde nicht zum Militärdienst eingezogen. "Ich bin kein Soldat, ich war nie in der Armee. Und ich habe auch keine Ahnung, wie das alles im Krieg läuft", erzählt Ustinov.

Oleksander Ustinov aus der Ukraine steht vor einem Transporter. © NDR Foto: Andrea Brack Pena
AUDIO: Ukrainer in Norddeutschland: Flucht statt Front (5 Min)

Ärger über Ungleichbehandlung bei der Einberufung

An seiner Einstellung hat sich in den vergangenen zwei Jahren seit Kriegsbeginn nichts geändert: Auch heute möchte er nicht kämpfen. Er spricht von Ungleichbehandlung und Korruption bei der Einberufung zum Kriegsdienst. Das ärgert ihn. "Reiche Leute müssen nicht kämpfen, aber Arme schon. Warum? Deswegen bin ich nicht dabei."

Der Familienvater erzählt, dass die meisten seiner Freunde und Verwandten damals aus der Ukraine geflohen sind. Nur wenige seien geblieben, um zu kämpfen. Ustinov hält den Kontakt zu ihnen. Wie sehen sie seine Entscheidung? Er sagt, ihm werde viel Verständnis entgegengebracht. "Ich habe Freunde an der Front und die sagen: Alles gut, wir bleiben hier."

Bei der Flucht mit 16 Jahren noch nicht wehrpflichtig

Dymitro Gontar aus der Ukraine steht vor einem Transporter. © NDR Foto: Andrea Brack Pena
Dymitro Gontar möchte in Deutschland bleiben und nach dem Schulabschluss eine Ausbildung beginnen.

Dymitro Gontar kann das bestätigen. Auch er will nicht kämpfen. Jeder habe das Recht, für sich zu entscheiden, ob er das wolle oder nicht - und das werde akzeptiert, erzählt der 18-Jährige. Schon kurz nach Beginn des Krieges kam er nach Deutschland - zusammen mit seiner Mutter und seiner jüngeren Schwester. Damals war er 16 Jahre alt und noch nicht wehrpflichtig. Sein Vater und sein Bruder blieben in der Ukraine. Sie wurden bisher nicht eingezogen und arbeiten, erzählt Gontar.

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Seine Zukunft sieht der Ukrainer in Deutschland

Ihm fällt es schwer, von ihnen getrennt zu sein. Aber selbst zurück in die Heimat möchte Gontar nicht. Das könnte für ihn bedeuten, zum Kriegsdienst einberufen zu werden. Er fürchtet, als unerfahrener Soldat im Krieg keine Chance zu haben. In Deutschland fühlt sich der 18-Jährige mittlerweile integriert. Er geht zur Schule, möchte sein Deutsch weiter verbessern und eine Ausbildung machen.

Entscheidung zum Weggang fiel Sergei nicht leicht

Der 32-jährige Sergei (Name geändert) ist vor fast zwei Jahren mit seiner Familie aus Kiew nach Hamburg gekommen. Der Grund: Sein zweijähriger Sohn Max, mit dem er zum Spielen in den Stadtpark geht, soll sicher und in Frieden aufwachsen können.

Wie Oleksander Ustinov war es auch Sergei wegen einer chronischen Krankheit möglich, nach Kriegsbeginn legal aus der Ukraine auszureisen. Dennoch möchte er unerkannt bleiben. "Manche verurteilen uns, manche nicht", erzählt er. Die Entscheidung, sein Land zu verlassen und nicht zu kämpfen, sei ihm schwergefallen. "Ich liebe meine Heimat sehr. Aber ich musste diese schwere Entscheidung treffen: entweder mein Land zu verteidigen oder für meine Familie da zu sein. Und ich entschied mich schließlich für meine Familie."

Erhöht die Regierung in Kiew den Druck?

Ein Mann und ein Kind gehen durch einen Park, sie sind von hinten zu sehen. © NDR
Mein zwei Jahre alter Sohn soll sicher und in Frieden aufwachsen - das ist der Wunsch von Sergei.

In Sergeis Heimat werden die Rufe nach einer Rückkehr von Männern im wehrfähigen Alter zunehmend lauter. Erst vor einer Woche appellierte Präsident Wolodymyr Selenskyj in der ARD-Sendung Caren Miosga entsprechend an seine Landsleute. Sergei hat Angst, dass die Regierung nun den Druck erhöht. "Ich habe gehört, dass alle Männer, die im Ausland leben, sich künftig über die Botschaft beim Militär anmelden müssen, um beispielsweise den Pass zu verlängern. Das bereitet mir schon Sorge", sagt Sergei.

Aufenthaltsgenehmigung gilt bis März 2025

Auf NDR Anfrage schreibt das Konsulat in Hamburg dazu, dass es sich dabei nur um Gerüchte handeln würde. Das Bundesamt für Migration und Flüchtlinge schreibt dazu: "Die Aufenthaltserlaubnisse von Geflüchteten aus der Ukraine gelten bis zum 4. März 2025 fort." Es sei kein Antrag auf Verlängerung notwendig.

Sergei hat bereits Aussicht auf einen Job als Ingenieur. Wie Oleksandar Ustinov und Dymitro Gontar hofft auch er sehr darauf, dass er weiterhin in Deutschland bleiben kann.

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