Stand: 06.07.2022 07:03 Uhr

Vor fünf Jahren: G20-Gipfel in Hamburg

von Elke Spanner und Annika Stenzel

Dienstag, 4. Juli:

Drei Tage vor dem Gipfeltreffen kommt es abends zu ersten gewaltsamen Auseinandersetzungen zwischen Gipfelgegnerinnen und -gegnern und der Polizei im Schanzenviertel. Am Pferdemarkt setzt die Polizei Wasserwerfer ein, als sie eine von etwa 3.000 Demonstrierenden besetzte Kreuzung räumt.

Mittwoch, 5. Juli:

Die Hamburger Polizei sperrt die Messehallen ab. Die Sicherheitszone erstreckt sich bis ins angrenzende Karolinenviertel. Nach Angaben der Polizei gibt es 14 Kontrollstellen. Insgesamt werden in der ganzen Stadt 7,8 Kilometer Absperrgitter errichtet, um den G20-Gipfel zu schützen. Große Übernachtungscamps sind in Hamburg verboten. Die Frage der Camps beschäftigt auch die folgenden Tage immer wieder die Gerichte. G20-Demonstrierende erhalten die Erlaubnis, im Altonaer Volkspark zu übernachten. 900 Menschen dürfen in maximal 300 Zelten untergebracht werden, bestätigten die Anmeldenden und die Polizei vor Ort. In Entenwerder wird trotz der Erlaubnis für 300 Schlafzelte, die das Oberverwaltungsgericht erteilt hat, kein Protestcamp mehr aufgebaut. Die Demonstrierenden nutzen eine Fläche um das Gelände der Kirche St. Trinitatis in Altona. Einige Zelte stehen im Kirchgarten der St. Pauli Kirche. Auch im Schauspielhaus dürfen einige Demonstrierende übernachten. Im Stadtpark in Winterhude war ein geplantes Camp zuvor bereits abgelehnt worden. Zur Begründung hieß es, eine große Zeltstadt auf der Festwiese sei mit der Grün- und Erholungsverordnung nicht vereinbar.

Auf Kampnagel veranstalten mehr als 70 Organisationen einen Alternativgipfel. Die Organisatorinnen und Organisatoren teilen mit:

"Die G20 verteidigt ein System, das die soziale Ungleichheit auf die Spitze treibt."

Die Kunst-Aktion "1.000 Gestalten" soll ein Zeichen für mehr Solidarität und politische Partizipation senden. Die Lehmzombies "stehen für eine Gesellschaft, die sich ihrer Hilflosigkeit vor den komplexen Zusammenhängen der Welt ergeben hat und in der der Einzelne nur noch für das eigene Vorankommen kämpft", so die Organisatoren. Die Lehmfiguren laufen schweigend durch die Stadt, später werfen sie ihre graue Kleidung ab, darunter kommen bunte Outfits zum Vorschein.

Rave gegen G20: Tausende Menschen sind bei der Demo "Lieber tanz ich als G20" dabei. Laut Polizeiangaben marschieren und tanzen etwa 7.000 Menschen mit, die Veranstaltenden sprechen von rund 20.000 Teilnehmenden.

Donnerstag, 6. Juli:

Ein Sonderzug mit G20-Gegnerinnen und Gegnern kommt am Morgen in Hamburg an. In der Schweiz gestartet, fahren ungefähr 1.000 Aktivistinnen und Aktivisten aus ganz Deutschland mit. Auf der Kennedybrücke meditieren mehrheitlich gelb gekleidete Yogis.

Die ersten Teilnehmerinnen und Teilnehmer des Gipfeltreffens landen auf dem Hamburger Flughafen. Darunter ist auch US-Präsident Donald Trump. Kanzlerin Angela Merkel trifft Trump abends im Atlantic Hotel zu einem Vorgespräch.

Abends findet das "Global Citizen"-Konzert mit Coldplay, Shakira, Pharrell Williams und vielen weiteren Stars in der damaligen Barclaycard-Arena statt. Tickets gibt es für Menschen, die sich engagieren.

Die "Welcome to Hell"-Demonstration markiert den Beginn der chaotischen Zustände in Hamburg. Bereits nach wenigen Metern wird der Demonstrationszug von der Polizei gestoppt. Nach Polizeiangaben hatten sich etwa 1.000 Vermummte unter die Demonstrierenden gemischt, Vermummung ist in Hamburg verboten. Mehrere NDR Reporterinnen und Reporter vor Ort berichten übereinstimmend, dass von den Demonstrierenden zunächst keine Gewalt ausgegangen sei. Allerdings legten tatsächlich viele Mitglieder des "schwarzen Blocks" ihre Vermummung nicht ab. Die von der Polizei geforderte Trennung der Demonstrierenden vom "schwarzen Block" gestaltet sich schwierig. Demonstrantinnen und Demonstranten werden eingekesselt. Die Polizei stürmt in den Demonstrationszug, setzt Wasserwerfer und Pfefferspray ein und treibt die etwa 12.000 Teilnehmenden auseinander. Es fliegen Flaschen, Feuerwerkskörper werden gezündet, später brennen umgestürzte Mülltonnen und Autos.

Auf der Reeperbahn bildet sich ein neuer großer Demonstrationszug mit etwa 8.000 Demonstrierenden. Die Polizei meldet mindestens 111 verletzte Beamtinnen und Beamte. In Altona und St. Pauli gibt es Angriffe auf Einsatzkräfte sowie Sachbeschädigungen, teilt ein Polizeisprecher mit. Im Altonaer Ikea-Kaufhaus und in einer Sparkasse gehen Schaufensterscheiben zu Bruch. Eine Rauchsäule steht über der Bernstorffstraße in Altona. Dort brennen mehrere Autos. Laut Polizei errichten Aktivistinnen und Aktivisten in St. Pauli und Altona brennende Barrikaden auf den Straßen. In Eimsbüttel werden mindestens zehn Geschäfte beschädigt.

Freitag, 7. Juli:

Das G20-Gipfeltreffen beginnt offiziell. Geplante Themen sind der Welthandel, die Klimapolitik, Terrorismus und Afrika.

Mehreren deutschen Journalistinnen und Journalisten werden die Akkreditierungen für das Pressezentrum auf dem Gelände an der Hamburger Messe entzogen. Neun verlieren ihre Zulassung vor Ort. Die übrigen 23 erfahren erst nach und nach, dass sie auf der Liste derer gestanden haben, denen der Zugang wegen Sicherheitsbedenken nicht gestattet wird. Dieses Vorgehen erntet viel Kritik.

Etwa 220 schwarz Vermummte ziehen am Morgen zwei Kilometer durch Altona und zünden Autos und Gebäude an der Elbchaussee an. Sie schlagen zahlreiche Scheiben ein, beschmieren Häuser mit Farbe. Ein Linienbus wird an der Weiterfahrt gehindert. Rauchwolken steigen über dem Stadtteil auf. Auch in der Max-Brauer-Allee und in Blankenese brennen Fahrzeuge. Polizeifahrzeuge werden attackiert. Derweil sind erste Fahrzeugkolonnen mit den Teilnehmenden des G20-Gipfels unterwegs zu den Messehallen.

Mit einer Hafenrundfahrt beginnt das Programm für die Partnerinnen und Partner der Staats- und Regierungschefs. Gastgeber Joachim Sauer, Ehemann der damaligen Bundeskanzlerin Merkel, hat sie eingeladen, die Sehenswürdigkeiten der Hansestadt zu besichtigen, darunter die Landungsbrücken, den Michel und die Elbphilharmonie. Am Abend steht ein Konzert auf dem Programm: Das Philharmonische Staatsorchester Hamburg unter Leitung von Kent Nagano spielt Beethovens 9. Sinfonie. Anschließend gibt es ein Abendessen im Kleinen Saal der Elbphilharmonie.

Greenpeace-Aktivisten hängen Banner von der Köhlbrandbrücke. Die Umweltschützer fordern: "G20: End Coal". Das Bündnis "Block G20" ruft zu Sitzblockaden auf. Demonstrierende versuchen, den Weg zu den Messehallen zu blockieren. Dazu wollen sie sich in fünf Gruppen, sogenannten "Fingern", die jeweils in einer Farbe gekleidet sind, dem Messegelände von verschiedenen Richtungen nähern und durch Sitzblockaden die Staats- und Regierungschefinnen und -chefs aufhalten. Zum Teil gelingen die Blockaden, einige Teilnehmerinnnen und Teilnehmer erreichen zudem die sogenannte rote Zone, was dazu führt, dass sich Gipfelteilnehmende verspäten. Die Polizei räumt diese Blockaden zum Teil mit Wasserwerfern. In Bahrenfeld am Rondenbarg gibt es ein Aufeinandertreffen einer dieser Gruppen mit der Polizei. Dabei werden nach Angaben der Feuerwehr elf Demonstrierende schwer verletzt. Sie seien am Morgen "in Folge einer Konfrontation mit Einsatzkräften" über eine mit einem Absperrgitter versehene Mauer geklettert und dabei abgestürzt, heißt es bei der Feuerwehr.

Mit Schlauchbooten versuchen derweil einige Demonstrierende, sich der Elbphilharmonie von der Wasserseite zu nähern. Etwa 15 Boote nähern sich der Sperrung auf der Elbe mit hoher Geschwindigkeit. Mehrere Aktivistinnen und Aktivisten springen rund 200 Meter vor der Elbphilharmonie über die Sperrlinie ins Wasser, dort werden sie von der Wasserpolizei umringt und herausgefischt.

Bei weiteren Blockadeaktionen kommt es zu Auseinandersetzungen. Am Nachmittag schneidet die Polizei einer Demonstration mit mehreren tausend Teilnehmenden den Weg von den Landungsbrücken zur wenige Hundert Meter entfernten Elbphilharmonie ab. Wasserwerfer fahren auf. Rund 200 Vermummte sind unter den Demonstrierenden, die offenbar näher an das Konzerthaus herankommen wollen. Auf St. Pauli eskaliert der Protestzug: Die Polizei meldet einen "massiven Bewurf mit Gegenständen". Reporterinnen und Reporter vor Ort beschreiben die Situation mit Worten wie "Straßenschlacht" und "Jagdszenen".

Im Laufe des Tages sind aber auch mehrere Demonstrationen und Protestveranstaltungen mit vielen hundert Teilnehmenden friedlich zu Ende gegangen. Darunter die des Bündnisses "Jugend gegen G20".

Im Schanzenviertel erreichen die Auseinandersetzungen am Abend einen dramatischen Höhepunkt. Während die "Revolutionäre-Anti-G20-Demo" auf der Reeperbahn beendet ist, hat sich die Lage am Schulterblatt noch nicht beruhigt. Das Schanzenviertel um die Rote Flora herum ist nach Einschätzung von Andreas Blechschmidt, einem der Sprecher der Anmelder der Demo "Welcome to Hell", am Abend eine "komplett polizeifreie Zone". Es brennen mehrere Feuer, teilweise meterhoch, mehrere Hundert Schaulustige stehen daneben. Barrikaden werden errichtet und angezündet, viele Scheiben sind eingeworfen worden und eine Budni-Drogerie und ein Rewe-Lebensmittelmarkt werden geplündert. In der Haspa-Filiale brennt es. Stundenlang lässt die Polizei die Krawallmachenden gewähren - ehe sie mit mehreren Hundertschaften vorrückt. Wasserwerfer löschen die Feuer, Räumfahrzeuge beseitigten die Barrikaden. Schwer bewaffnete Spezialkräfte dringen in ein Haus am Schulterblatt ein und nehmen dort 13 Personen fest. Später meldet die Polizei brennende Barrikaden und Autos in mehreren Stadtteilen.

Sonnabend, 8. Juli:

Die größte Anti-G20-Demo unter dem Motto "Grenzenlose Solidarität statt G20" zieht am letzten Gipfeltag durch die Stadt. Nach Polizeiangaben beteiligen sich insgesamt etwa 50.000 Menschen, die Veranstaltenden sprechen von 76.000 Demonstrierenden. Der Protestzug, der auch von autonomen und linken Gruppen unterstützt wird, verläuft friedlich. Auch die zweite große Demo verläuft entspannt. Zu "Hamburg zeigt Haltung" hatte ein breites bürgerliches Bündnis aufgerufen, es sind laut Polizei rund 6.000 Teilnehmende dabei. Die Veranstaltenden sprechen von etwa 10.000 Demonstrantinnen und Demonstranten.

Am Abend bereiten sich gewaltbereite Demonstrierende offenbar auf neue Zusammenstöße mit der Polizei vor. In Seitenstraßen der Reeperbahn und in der nahen Hafenstraße werden Barrikaden aus Bauzäunen und Mülltonnen errichtet. Die Polizei versprüht Tränengas. Auch im Schanzenviertel gibt es neue Auseinandersetzungen. Laut Polizei sind an der Roten Flora Vermummte aufgezogen und haben Beamtinnen und Beamte mit Gegenständen beworfen. Im Schanzenviertel gibt ein Polizeibeamter einen Warnschuss ab, weil er "massiv von Gewalttätern angegriffen" worden sein soll. Er soll sich in einem Geschäft in Sicherheit gebracht haben. Einsatzkräfte sollen zunächst einen Straßenraub beobachtet haben und seien beim Einschreiten von den Tätern angegriffen worden.

Die Ergebnisse des G20-Gipfels geraten wegen der Auseinandersetzungen in den Hintergrund.

Der Anwalt und Sprecher des linksautonomen Kulturzentrums im Schanzenviertel, Andreas Beuth, gerät unmittelbar nach den schweren Ausschreitungen ins Visier der Staatsanwaltschaft. In der ARD sagt er:

"Wir als Autonome und ich als Sprecher der Autonomen haben gewisse Sympathien für solche Aktionen, aber bitte doch nicht im eigenen Viertel, wo wir wohnen. Also warum nicht irgendwie in Pöseldorf oder Blankenese?"

 

 

Dieses Thema im Programm:

NDR 90,3 | 07.07.2022 | 08:00 Uhr

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